Tuesday, August 31, 2010

#198, Wenn Ulf es wieder mal übertreibt (Achim)

An heißen Sommertagen ist Ulf wie ein Tier. Wir laufen durch die Straßen, und immer und immer wieder flüstert er „hast du die gesehen, die mit dem schwarzen Rock und die mit den blonden Haaren und die mit den Flipflops und die mit den Cowboystiefeln und die mit den langen Beinen und die mit dem strengen Gesicht und die mit den dicken Kugeln und die, die so auf billig macht und die mit der schwarzen Brille und die auf dem Fahrrad?“ – Ich will ihn ermahnen, ihm die oder die andere schnell ausreden: „Die passt doch gar nicht zu dir!“ Heute ist nichts zu machen – er will sie alle! „Ich versuche, an jeder Frau etwas Schönes zu finden“ sagt er, und wenn auch die Sommerhitze seinen Sinn für Schönheit ein wenig dem Trieb unterwirft, glaube ich ihm, dass er den Frauen, denen er nachsieht, liebenswürdig begegnen würde. Ich kenne ihn: wenn ihn doch mal eine Frau anspricht, ist er scheu und ungeschickt. Er selbst traut sich nicht, er flüstert nur: „Und die? – was denkst du!“ – „Geh doch hin und frag sie!“ antworte ich neckisch, und er schaut mich an wie jemanden, der empört darum bittet, ernst genommen zu werden.


Monday, August 30, 2010

#78, Grippe 2010

Wenn man sich nicht wohl fühlt, weil der Hals kratzt und der Kopf schmerzt und alles an dir müde ist und nach unten zieht: Dann gibt es nichts besseres, als sich ins Bett zu legen und ein bisschen zu schlafen.
Und wenn der Hals kratzt und der Kopf schmerzt und alles an dir auch nach dem Aufwachen noch immer müde ist und nach unten zieht, dann gibt es nichts besseres, als sich noch einmal umzudrehen und einfach weiterzuschlafen.

Sunday, August 29, 2010

#199, à la mode

In der SB-Sparkasse in Neukölln stehe ich hinter den drei Geldautomaten und warte.
Am mittleren Automaten steht eine junge Türkin, ganz in weiß gekleidet, mit einem eleganten Kopftuch, Leopardenfelloptik auf weißem Grund.
Rechts von ihr steht eine Türkin ähnlichen Alters, um die 25, diese jedoch im klassich-schwarzen, eng sitzenden Mantel. Auch Hose, Ballerinas und Handtasche sind schwarz, zeitlos nennt man das. Dazu kombiniert sie ein modisches Kopftuch in frechen Farben, schwarz, pink und weiß.
Am Automaten links steht eine ältere Dame, ebenfalls Türkin, um die Taille rundlich, weshalb ihr weinroter Mantel auch etwas legerer geschnitten ist. Ihre Accessoires sind passend dazu dunkel gehalten, auch ihr Kopftuch ist schwarz.
Das ist wie beim einarmigen Banditen, denke ich, wenn man am Hebel zieht und dreimal dasselbe Bild erscheint. Fast warte ich auf das Klimpern von Münzen.
Als es ausbleibt, drehe ich mich um, um zu sehen, wie lange die Schlange hinter mir schon geworden ist. Da stehen zwei blonde deutsche Mädchen, wie ich von Kopf bis Fuß in Jeansstoff eingenäht. Und jede von uns trägt ein Tuch um den Hals, meins ist türkis und grün, das des Mädchens hinter mir ist rot und gelb, das dahinter olivgrün mit silbrig glänzenden Streifen.

Saturday, August 28, 2010

#149, Nachtrag: Ein Tisch für 13.

Zehn kleine Mädchenfinger greifen von hinten in meine Haare, verschiedene Vorschläge und Techniken werden hinter meinem Rücken nacheinander verworfen. Die Finger arbeiten dazu schon einmal probeweise, greifen hier Strähnen, lassen sie dort fahren, man kommentiert derweil.
Am Ende legt sich ein zufriedener Klang in das Stimmchen und rundet ihm ein wenig den Bauch, auch die Finger greifen nun zielstrebiger, die Idee ist jetzt klar:
Ich bekomme einen geflochtenen Zopf, ohne Scheitelansatz. Ohne Scheitelansatz, das scheint wichtig. Am Ende gilt es, die Nerven zu bewahren, der Haargummi fehlt.
Nebenan wird deshalb kurzerhand ein anderer Zopf gelöst, dort fallen jetzt Haare, während meine neue Frisur endlich fixiert werden kann.
Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass hinter mir ein zehnjähriges, schmales Mädchen steht mit großen Augen. Ich muss mich auch nicht umdrehen, um zu wissen, dass diese Augen jetzt strahlen. Denn auch ich freue mich über die neue Frisur.

Friday, August 27, 2010

#200, Das schönste Amt Berlins (Achim)

In den letzten Jahren durfte ich viele Ämter kennen lernen: Das Bürgeramt, das Arbeitsamt, das Sozialamt, das Gesundheitsamt, das Finanzamt, das Ordnungsamt und noch ein paar weitere am Rande. Mein Lieblingsamt ist das Zollamt. Dort landen meine Pakete mit Schallplatten aus Amerika. Ich bekomme einen Brief mit einer Karte, einer Nummer und einem Zettel und mache mich auf den Weg, den halben Ring nach Süden, bis zum Innsbrucker Platz.

Wie in allen Ämtern sprechen auch hier die Leute ungern vor. Am Tresen gibt’s eine Nummer, wer aufgerufen wird muss das Paket öffnen und die Rechnung vorzeigen, etwas zahlen oder auch nicht, und mit dem Stempel auf der Quittung ist das Paket frei. Wer mit dem Paket unter dem Arm wieder geht, ist glücklich! Einigen fällt es gar schwer, vor Freude die Fassung zu wahren und ein dem Amt angemessen ernstes Gesicht zu zeigen.

Das Amt hat nur zwei offene Räume, hell, große Fenster, Glastüren, einen Parkplatz und ein Kaffeeautomat, und Beamten, denen man nichts vormachen braucht – sie kennen die Ausreden. Selbst Männer mit rotem Kopf haben hier manchmal Glück. Sie erwarten Medizin aus Übersee, eigentlich verboten, - und wenn sie doch mit ihrem kleinen Päckchen abziehen, sind sie starke Kerle.

Thursday, August 26, 2010

#13, Gute Aussichten

Endlich habe ich mögliche Interessentinnen gefunden für ein lange gehegtes Projekt: Die Biertrinkerinnen-Mädchenrunde.

Wednesday, August 25, 2010

#115, Rückführung

Auf dem Nachhause-Weg von meiner letzten Stunde war es schon dunkel, zwei Mäuschen flitzten meinen Schritten voraus und ich dachte daran, was ich selbstherrlich vor kurzem meiner Nichte gesagt hatte: Männer sollen Freude machen.
Wenig später dann wollte mich ein Typ, gar nicht schlecht, von der Straße weg auf ein Bier einladen. Ich bin nicht mitgegangen, auf ein Bier, denn der Typ war ein Trottel.
Nur Trottel denken, dass man in Westcoast-Manier und mit einem akzeptablen Lächeln Dinge sagen darf, wie: „Entschuldige, du gefällst mir!“
Und nur Trottel glauben, sich mit einem Küsschen auf die Stirn verabschieden zu dürfen.
Trotzdem hat mich der Trottel zu meinem Lehrsatz zurückgeführt, der da lautet: Männer sollen Freude machen.

Tuesday, August 24, 2010

#197, Neuberechnung in Gang (Achim)

Steffen klingelt. Ich eile die Treppe runter, steige ins Auto, und während er Kurs auf die Seestrasse nimmt, meldet sich das Navigationsgerät: „Neuberechnung in Gang“.

Seit einigen Wochen ist alles anders. Ich habe schon keine Post mehr von dubiosen Banken bekommen, die mir noch heute meinen Wunschkredit bar auszahlen wollen. Nur die Sparkasse schreibt, sie möchte mir helfen, mein Geld anzulegen. Ich schaue nach: Anfang des Monats war mein Konto für zwei Tage im Plus. Das scheint zu reichen, um in den Netzen der Datensammler neu positioniert zu werden.

Gestern rief ein lustiger Franzose mit grandiosem Akzent an, und fragt höflich, ob er mich und meine Partnerin zu einem Porzellanpräsentationsabend einladen darf. Gerne hätte ich länger mit ihm gesprochen, über seine Erfahrungen mit Anrufbeantwortern, gelangweilten Hausfrauen und wütenden Studenten, die Strategien seines Vorgesetzten, die Strichliste für erfolgreiche Anrufe und das Grinsen seiner Mitarbeiter zum Spruch „ich will ich kann ich mache“ - und vielleicht hätte sich dabei herausgestellt, dass er mich und meine Partnerin wirklich zu einem Porzellanpräsentationsabend einladen wollte, und ich solle mir keine Sorgen machen, wenn die Partnerin zur Einladung noch fehlt – er könne nichts versprechen, will aber sein bestes geben – ich kann ihm vertrauen!

Monday, August 23, 2010

#144, trial and error

Es kommt ja immer anders, als man denkt.
Schwieriger als gedacht gestaltet es sich zum Beispiel, die richtigen Kekse für das Frühstück zu finden. Oder den Kontakt zu manchen Menschen aufrecht zu erhalten. Oder das scheiß Fahrrad, dem die Nachbarn ständig die Ventile abschrauben, wieder fit zu bekommen.
Andere Sachen dagegen sind am Ende einfacher, als ich angenommen hatte: Der Arztbesuch heute, bei dem es hieß, ich sei ganz einfach gesund. Oder den Kontakt zu manchen Menschen aufrecht zu erhalten. Oder den Titel für eine Arbeit zu finden, die ich noch nicht einmal begonnen habe.
Und manchmal finden sich sogar überraschend einfache Lösungen für schier unlösbare Probleme. Etwa die Frage, wie zum Teufel man in dieser Stadt an einen halbwegs akzeptablen Pizza-Service kommt. (Mehrmalige trial-and-error-Versuche endeten jeweils in einer Katastrophe.)
Die Antwort: Die akzeptable Pizza holt man sich an der Pizzeria um die Ecke.

Sunday, August 22, 2010

#200, Von der Unverhandelbarkeit alter Feindbilder

Nach der Schule habe ich einen Gestaltungskurs namens Werkbund gemacht. Das war eine Art Auffanglager für alternativ gestimmte Kinder von Besserverdienenden, die keine Ahnung hatten, was zum Teufel sie mit ihren Leben anstellen sollten. Natürlich, ich generalisiere.
Hauptziel des Werkbunds schien es, Reihungen zu propagieren. Wenn man nur eine einzige Sache machen wollte, war das schlecht. Immer musste es mindestens ein Davor und ein Danach geben. Nach einem halben Jahr hatte ich die Schnauze voll von Reihungen, ich machte nur noch einzige Sachen. Am besten gegenständlich, da resignierten die Lehrer völlig.
Am schlimmsten waren aber die alternativ gestimmten Mädchen, die jede Äußerung des Lehrkörpers enthusiastisch aufnahmen und sogleich in der nächsten Arbeit umsetzten. Die fanden immer alles „total geil“.
Gestern habe ich zwei Mädchen getroffen, die den Gestaltungskurs im Jahr nach mir gemacht haben. Das war natürlich ein Zufall! Was für ein Hallo! Und wie hieß noch mal! Dann machte ich einen Witz über Reihungen. Den verstanden sie nicht, weil sie den Werkbund immer „total geil“ fanden. Das Gespräch war für mich beendet, intuitiv abgebrochen. Meine Begleitung, die kein Wort verstanden hatte, fragte mich danach: Und was hattest du eigentlich mit diesen beiden Tussis zu tun? Gar nichts, antwortete ich.

Saturday, August 21, 2010

#198, Die Farbe des Hemdes (Achim)

Da mir mit dem grünen Haarwaschmittel auch nur graue Haare wachsen, wähle ich den einfachen Weg und weise den Gedanken einfach Farben zu, so, wie sie mir in den Sinn kommen. Rot für Gedanken an Sex, Grün für solche, die den Wald und seinen Schatten huldigen, gelb für Gedanken, die der Mehrung des Geldes ergeben sind - Schwarz für Gedanken an Tod und Politik.

Ich könnte Handzettel verteilen, auf denen die Zuordnung von Farben zu Gedanken vermerkt ist, und meine Freunde bitten, ebensolche Handzettel zu erstellen, und in einer Tabelle die Farben vergleichen. Wenn ich mutig bin, könnte ich meine Feinde bitten, es ebenso zu tun. Je nach Form könnte ich auf die Straße treten und eine Fahne schwenken – und wer mich kennt, weiß dann, was mich beschäftigt.

Mit der Zeit werden die Farben von sich aus Partei ergreifen: Im roten Hemd suche ich eine Frau, im gelben mache ich Geschäfte und im schwarzen gehe ich zur Wahl – und schon morgens vor dem Kleiderschrank bestimmt die Wahl des Hemdes die Geschicke des Tages.
So hätte ich immerhin schon mal die Farbe am Gedanken – nur wie sie von dort in die Seele gelangen, ist mir noch immer ein Rätsel.

Friday, August 20, 2010

#200, You have 59 million friends on facebook!

„Ich verbringe den Großteil meiner Zeit damit, Leute anzulächeln, die nicht existieren sollten.“
Die restlichen Stunden will ich für mich, will ich mit dem ausfüllen, was ich, und ich habe lange gebraucht, sie definieren zu können, meine Prioritäten nenne. Leider vertragen meine Prioritäten wenig von dem, was ich sonst noch gerne mache: Partys, Musik, Drogen, Leute. Schon schwierig genug ist es, eine Partnerschaft und meine Handvoll Freunde damit zu vereinbaren. Manchmal telefoniere ich, manchmal gehe ich in eine Kneipe, manchmal scheiße ich auch auf alles, betrinke mich auf einer Party und tanze.
Meistens aber bleibe ich für mich und arbeite.
Facebook (da mögen die Soziologen sagen, was sie wollen) hat nicht dazu geführt, dass ich vereinsame. Im Gegenteil: Eine halbe Stunde täglich sehe ich mir an, was U. am Rechner gezaubert hat, welche lesenswerten Artikel L. an mich weiterleitet, und wie S.s (meist onomatopoetischer) Tageskommentar lautet.
Ich bleibe sogar halbwegs auf dem Laufenden, was die Leute angeht, die nicht mehr mit mir sprechen wollen, oder mit denen ich nicht mehr sprechen will (überraschend viele).
Aus der Distanz freue ich mich daran, wie alle so ihren Tätigkeiten nachgehen und habe halbstündigen Anteil an einer Welt, gegen die ich mich entschieden habe.

Thursday, August 19, 2010

#29, Fund-Stück II

"Jemand, der schwach und unsicher ist, ist ein Ärgernis.
Jemand, der stark und unsicher ist, kann ein Imperium zu Fall bringen."

(Marcelo Figueras: Das Lied von Leben und Tod)

Wednesday, August 18, 2010

#199, Buch mit Umschlag (Achim)

Es ist elf Uhr vormittags - ich bin verabredet. Lutz hat mich angerufen, er hat Holz im Keller, schön trocken und kleingesägt, ideal zum Anfeuern. „Wenn Du kommst“, sagt er, „dann links rein, links vom Literaturcafé“ – damit meint er den Verlag, der vorne bei ihm im Haus ist, in einer ehemaligen Kneipe. Er sieht aus wie eine Imbissbude, in der man je nach Geschmack und Budget sein eigenes Buch mit oder ohne Schutzumschlag bestellen kann – inklusive Promotion. Schon jetzt stehen die Autoren vor der Tür, schauen auf ihre Füße und rauchen, als hätten sie einen Lehrgang – und Pausen nach belieben.

Mir ist es gleich, ich habe zu tun, Lutz winkt. Ich ziehe den Anhänger durch den Hausflur in den Innenhof, schleppe Holzreste aus dem Keller, bedanke mich und ziehe mit voller Karre ab. Zu Hause verstaue ich den Anhänger, koche Kaffee und höre Schlager bis der Abend kommt. Mehr bleibt mir nicht zu tun, bis in zwei Wochen, da soll ich noch mal kommen, um den Rest vom Holz zu holen. Und wenn die Typen vor der Bude wieder so neugierig gucken, werde ich nett sein und ihnen etwas von dem Holz anbieten - Feuer haben sie ja selber.

Tuesday, August 17, 2010

#168, in privatim

Wer, wie ich, plötzlich feststellt, dass die Person, mit der man den größten Teil der letzten vier Monate verbracht hat, Linkshänder ist, der ist zunächst einmal überrascht.
Das muss man sich kurz vorstellen.
Diese Person:
schreibt
schneidet Brot
putzt sich die Zähne
öffnet die Tür
wischt den Ofen
tippt eine Nummer
streicht mir übers Haar
bindet sich die Schuhe
alles mit der linken Hand. Und ich stehe daneben, oft zumindest. Und sehe nichts davon.

Dabei mag ich ja, wie schon bemerkt, Überraschungen sehr gerne. Gute wie böse Überraschungen sprengen die einstudierten Abläufe der Gegenwart. Aber diese Überraschung im Besonderen blieb keine Überraschung, sondern sie wich bald der Bestürzung. Dass ich wenig über die Arbeitsabläufe auf einem Fischkutter weiß, mag angehen. Dass jedoch meine fünf Sinne nicht ausreichen, um die Realität in meinem kleinsten Umkreis, sozusagen in privatim, zu entschlüsseln, hinterlässt mich befremdet.
Aber wenn sich jetzt einer unserer Leser vielleicht zu einem heilsamen Kommentar hinreißen ließe, entstünde aus der ganzen Geschichte ja vielleicht doch noch ein schöner Moment.

Monday, August 16, 2010

#196, Über Musik zu reden...

Ich stehe lässig im Plattenladen und höre in einem etwas albern aussehenden tragbaren CD-Player ein paar Alben durch.
Es ist schon so lange her, dass ich das letzte Mal in einem Plattenladen war, dass ich gar nicht sagen könnte, auf welcher Modernitäts-Ebene ich mich gerade befinde.
Aus den Äußerungen einiger Freunde („Och, du hast noch CDs? Ist ja süß!“) habe ich geschlossen, dass die Zeit für CDs wohl schon länger vorbei ist. Andererseits wird hier nichts anderes verkauft, nur ganz hinten gibt es eine kleine Vinyl-Ecke: Publikum existiert also noch.
Ich höre jeweils die ersten drei, vier Songs, gebe der Band und mir Zeit, uns aneinander zu gewöhnen. Über Eck steht Lu und kämpft mit einem Booklet, das sich zu einem beinahe unbeschrifteten Poster entfalten ließ. Ich liebe Booklets.
Andere mögen CDs nach dem Label aussuchen oder sich nach den Tipps von Freunden richten. Ich wähle sie anhand der Grafik aus. Als ich noch selbst im Plattenladen arbeitete, stellte sich das als durchaus treffsichere Methode heraus. Auch diesmal, kaum außer Übung, gefällt mir meine Wahl. Ich kaufe drei Alben (furchtbarer Pop) und entdecke, dass der Charme des Geschehens in den Platten liegt, die ich zurückgehen lasse.

Sunday, August 15, 2010

#76, Überraschungen III

Manchmal will man nur den Wäscheständer hinter der Tür vorziehen und haut sich dabei die Klinke in die Fresse. Oder man will den Kaffee ins Wohnzimmer tragen und lässt die Tasse fallen.
Oder man sitzt am Esstisch und ärgert sich über den Regen, der vor dem Fenster fällt wie im November. Und dann steht man auf, um etwas im Schlafzimmer zu holen und stellt fest, dass es auf der anderen Seite des Hauses gar nicht regnet.

Saturday, August 14, 2010

#199, Die Farbe des Haarwaschmittels (Achim)

Seit Monaten versuche ich, für Gedanken eine Farbe zu finden. Beispielsweise für Gedanken an den Verlauf von Billardkugeln, an Essen oder Sex, an alte Freunde oder zwingende Erledigungen, an Mathematikaufgaben oder ganz allgemein eine Farbe für das, was so im Kopf passiert, wenn man aus dem Fenster schaut. Die Farben, die mir in den Sinn kommen, gefallen mir nicht, und die Farbe des Gemüts, das sich mit der Frage nach der Farbigkeit von Gedanken zu beschäftigen hat, bleibt mir fremd.

Heute beim Duschen gefiel mir die Farbe des Haarwaschmittels: Es ist grün. Ich überlege, wie es wäre, wenn das Haar mit der Zeit die Farbe des Lieblingshaarwaschmittels annehmen würde, und ob es nur dann grau wird, wenn man das Haarwaschmittel oft wechselt. Oder ob Menschen die Farbe der Früchte haben, die sie gerne essen, wenigstens ihre Kleidung danach auswählen, und ob die, die gerne den Kopf in den Nacken legen und den blauen Himmel ansehen ebenso gerne blaue Hemden tragen. Und ob die, die Kirschsaft mit Zitronenscheiben mögen, quietschvergnügt die Zähne putzen und aufstehen bevor der Wecker klingelt. Und ob Menschen, die den Schatten grüner Bäume mögen, nach der Farbe des Windes fragen – und welchen Charakter sie sich wünschen.

Friday, August 13, 2010

#31, Joker

"liebe A.,

(...)
ist dir übrigens schon aufgefallen, dass hühner in diesem blog
überproportional vertreten sind?
ergo hühner sind schönheit????

hm, mit diesem gedanken lasse ich dich jetzt mal allein.

deine M."

Thursday, August 12, 2010

#200, Supermann im Märchenland (Achim)

Vor einem Jahr traf ich Supermann in der Kleingartenanlage Märchenland, nur einen Steinwurf entfernt vom ersten Getreidefeld nördlich Berlins. Ich setzte mich auf eine Bank, verschnaufte und sah zu ihm rüber. Er trug ein paar Plastikgartenschuhe und einen Strohhut, und in den Händen hatte er eine Harke, mit der er die Beete auflockerte. Richtig fit schien er nicht zu sein, denn immer wieder unterbrach er seine Arbeit und trank einen Schluck Bier. Der Schweiß klebte ihm auf der Stirn, sein Kostüm mit dem Blitz hatte Flecken, und sein Bauch quoll aus der Hose. Dennoch schien er guter Dinge zu sein, freute sich über die grüßenden Nachbarn, und streichelte den Kläffer, der ihn ansprang und wild mit dem Schanz wedelte – aber Supermann hatte grade kein Leckerli im eng anliegenden Kostüm. Eine halbe Stunde sah ich ihm zu – er mochte das nicht. Aber ich mochte ihn, und ich nahm mir vor, ihn immer wieder zu besuchen, im Märchenland, nahe den Feldern. Schon zwanzig mal war ich wieder dort, saß auf der Bank, traf den Hund und die Nachbarn wieder – nur Supermann blieb verschwunden. Aber ich weiß, dass er da ist. Erst heute war ich nachsehen. Die Beete seiner Laube sind ordentlich geharkt.

Wednesday, August 11, 2010

#200, Den Resten eine Chance

Eine dieser Kreuzberger Kneipen: Nicht schick, nicht edel, nicht teuer, aber auch keine Bierkneipe, weder modisch-vergammelt noch richtig-vergammelt. Eine dieser Kneipen, die zu beschreiben fast unmöglich ist, weil die Adjektive fehlen. Weil das Wort normal sofort in eine Vielzahl kleinster Teile zerfällt, sobald man mit dem Finger daran stupst.
Eben eine dieser Kreuzberger Kneipen, in der sich die Nachbarschaft trifft.
Da wäre der Mann um die 40 mit dem enormen Bierbauch, der jeden Gedanken an Sex sofort krank wirken lässt. Der Mann mit dem T-Shirt Too old to die young. Die Frau mit den vielen Plüschtier-Anhängern an der Umhängetasche. Dazu zwei Alkoholiker und das Pärchen, das auf der hinteren Bank sitzt und knutscht.
Dies ist keine Bühne, dies ist ein erweitertes Wohnzimmer.

Auf die Musik habe ich zuvor nicht geachtet, aber dann kommen einige Stücke von The Element of Crime. Ich kenne sie nicht, sie müssen von den neueren Alben stammen, und plötzlich wird die ganze Szene rund. Die Details, Too old to die young, die halbleeren Krüge, die Plüschtier-Anhänger, gewinnen an Schärfe, wollen eine Aussage machen.
Musik und Bild ergeben ein Ganzes, erhöhen sich gegenseitig, ernähren sich von einander.
Das ist Kunst, ohne Intention, ohne Künstler, aber mit Publikum.

Tuesday, August 10, 2010

#173, Wecker-Wonnen

Ganz, ganz leise haben sich zwei aus ihren angestammten Plätzen auf dem Ziffernblatt gelöst, das mich umgibt. Mit keiner unnötigen Geste haben sie den Wechsel in der Zahlenfolge angekündigt, am liebsten wäre ihnen, er bliebe unbemerkt.
Auch ich bin bei blanken Stellen nicht stutzig geworden, habe ein Fehlen hier und ein Zusammenrücken dort nicht bemerkt, zu mechanisch fährt der Zeiger jede Stunde ab.
Anarchistisch jedoch ist im Inneren jedes Uhrwerk gestimmt, es sind nur die Rädchen und Zwirren und Spulen, die sie uns beigeben: Die zwingen uns in den Lauf der Zeit.
Auf 1 folgt 2 folgt 3 dann 4, das war nicht meine Idee, ich bin kein Liebhaber des Immergleichen. Und endlich darf ich auf hahnebüchene Zeiten zeigen. Nur ernst aussehen muss ich dabei, wie eine Uhr, bei der es richtig tickt. Deshalb fahren meine Zeiger fort, ihre Runden zu drehen, ganz so, als ob nichts wäre.
Aber im Inneren, dort, wohin kein Uhrmacher mehr findet, seitdem sie diesen ehrbaren Beruf wegrationalisiert haben, dort erlaube ich mir eine pöckernde, glöckernde, schnurrende Freude.

Monday, August 9, 2010

#159, Fettes Grün (Achim)

Das Aquarium strahlt! Seit Monaten schaltete die Zeitschaltuhr das Licht morgens ein, abends aus. Das fiese Algenkraut gedieh, und ich blickte sonstwo hin - bis heute. Jedes Mal, wenn ich nach Monaten der routinierten Nachlässigkeit die Scheiben mit einem weichen Schwamm putze, wild wuchernde Pflanzen an der Frontscheibe rausrupfe, den Filter sauber mache und zwei Eimer Wasser wechsle, dann stehe ich stauend vor dem Glaskasten: „Das kann nicht sein“ denke ich, das geht nicht mit rechten Dingen zu.
So einer dieser Motivationstrainer schrieb mal: „Einfach auf die Straße treten, in den Himmel gucken, die Mundwinkel nach oben ziehen, zehn Sekunden so ausharren!“ – netter Versuch. Und wenn ich dann wieder trübe auf das Pflaster blicke habe ich ein schlechtes Gewissen – und verzeihe dem Trainer seinen billigen Trick.
Aber heute, ja heute, da strahlt das Aquarium, und ich strahle auch, und wenn auch die Fische über das Jahr das Weite gesucht haben, werden die, die noch kommen, es gut haben! Versprochen!

Sunday, August 8, 2010

#35, Überraschungen II

Nicht alle Menschen sind meine Freunde. Das Erstaunliche ist, wie selten man sich mit offener Feindseligkeit konfrontiert sieht.
Und passiert es doch einmal, versuche ich, das als Abwechslung zu begreifen.

Nichts ist schlimmer als Indifferenz.

Saturday, August 7, 2010

#21, Überraschungen!

Wenn zum Beispiel jemand anruft, den du schon ein halbes Jahr nicht mehr gesehen hast, und dich spontan zum Essen einlädt.

Friday, August 6, 2010

#200, Einführung ins kritische Denken

Auf dem Schild vor dem Wachsfigurenkabinett steht, die Karl-Marx-Figur sei derzeit leider nicht zu besichtigen.
Mein Neffe: Wer ist das denn, Karl Marx?
Ich: Ein deutscher Philosoph.
N: Ah.
Pause. Die Schlange rückt vor.

Ich (ungefragt): Der hat sich damals so ein bisschen im Kapitalismus umgesehen und aufgeschrieben, was nicht gerecht ist.
Das war die Grundlage für die Regeln, nach denen man im kommunistischen Russland lebte.
N: Hm.
Kommunismus?
Ich: Ähm. Bei uns denkt man, jeder ist für sich selbst verantwortlich und wenn du dich anstrengst, bekommst du einen guten Job und viel Geld. Das ist Kapitalismus.
N: Und Kommunismus?
Ich: Ja, der Kommunismus. Da hat man gedacht, dass es nicht gerecht ist, dass manche mehr und andere weniger haben. Deshalb haben alle vom Staat gleich viel bekommen.
N: Wie?
Ich: Na ja. In Cuba verdient ein Lehrer ungefähr soviel wie ein Müllmann, weil man dort glaubt, dass es keine wichtige oder unwichtige Arbeit gibt.
N: Aber das ist doch doof!
Ich (schulmeisterhaft): Gar nicht. Was glaubst du: Wer geht am Abend mit mehr Rückenschmerzen heim, der Lehrer oder der Müllmann?
N: Der Müllmann.
Pause. Die Schlange rückt vor.

N (grinsend): Aber funktioniert hat es nicht!
Ich: Nee... nicht richtig.

Thursday, August 5, 2010

#200, Staubsauger (Achim)

Mit der Düse fahre ich die Schränke ab, Linie für Linie, zügig, gleichmäßig schnell, und entwerfe dabei einen Plan: wo entlang, wo muss ich noch, und: wann war das nur, als ich zuletzt unterwegs war. Mein Blick folgt der Düse, überholt sie, folgt wieder, zufrieden, stumpf im Lärm des Motors und seiner mehr als tausend Watt. Vor kurzem habe ich einen Steckplatz für den Staubsaugerschlauch an seinem Bauch gefunden – jahrelang habe ich mit ihm gekämpft, und nun, mit einem mal, gelingt mir der Haushalt. Ich weiß noch wie ich ihn gekauft habe: Der Karton hatte Grifflöcher, genau dort, wo auch der Staubsauger seinen Griff hat – ich trug ihn nach Hause und freute mich – denn ich wusste den Staubsauger auf meiner Seite.

Erst vor einer Woche rief mich eine Bekannte an, erzählte, sie habe endlich einen Staubsauger gekauft, und als die den Verkäufer fragte, wie sie ihn nach Hause bekommt, da zeigte er ihr den Griff, und ich verstand sofort, was sie mir erzählen wollte. Bei Gelegenheit verrate ich ihr den Trick mit dem Schlauch, dem Steckplatz am Bauch, und frage sie, wie sie die Linien abfährt, und ob sie auch einen wilden Plan hat, der das Brummen des Motors begleitet.

Wednesday, August 4, 2010

#18, Kurz vor 12

Totale Erschöpfung.
Und dann den süßen Moment, sich endlich ins Bett zu legen, noch um zehn Minuten hinauszögern.

Tuesday, August 3, 2010

#49, Grau und Rot

Am Holocaust-Mahnmal: Erwachsene Männer mit Panama-Hüten steigen auf den Stelen herum, reißen die Arme in die Luft und lassen sich fotografieren.
Zwischen den Stelen, dort, wo es tiefer wird, huscht mein Neffe umher, der mit den feuerroten Haaren. Mag sein, dass ich parteiisch bin, aber ich finde, das passt.

Monday, August 2, 2010

#174, Die Popkornräuber (Achim)

Seestraße, Wedding: Zwei erwachsene Männer rasen auf einem Mofa breit auf der rechten Spur gen Osten. Der eine lenkt, der andere hält im linken Arm den ersten fest, und im rechten einen riesig vollgestopften blauen Müllsack, leicht durchscheinend – wir nähern uns auf der linken Spur. „Räuber auf der Flucht“ sage ich zum Fahrer – nur, was haben sie gestohlen? Fünf Meter später überholen wir den Sack: Popkorn, sonst nichts, nur ein Sack voll Popkorn.
„Wer klaut denn Popkorn?“ frage ich, und stelle mir den Überfall vor, im Kino: „Hände hoch, gib mir all Dein Popkorn!“ – der Angestellte gehorcht, die Männer fliehen, und wir hinterher. „Sie werden es zu Hause in die Badewanne kippen und Pornos gucken! – vorne, vor der Videothek, wenn sie den Film ausleihen, können wir sie abfangen!“ Der Fahrer bekommt Angst. „Sollen wir nicht lieber selber Popkorn klauen? Das könnte einfacher sein“, schlägt er vor. Das ist es. Morgen um zehn vor dem Kino Zentral, vor der Spätvorstellung – Leute, seid auf der Hut, denn wir haben einen Kleintransporter mit dunklen Scheiben. Ein Sack wird uns nicht reichen! Und eine Badewanne erst recht nicht.

Sunday, August 1, 2010

#148, S.

Hoy hace exactamente un año que no te veo, que no escucho tus novidades.
Amigos en común, pocos, y no me hablan de vos.
Tienen razón, no hay mucho que decir. De todas formas, sé más o menos bien donde estás, sé más o menos bien en que andas.
Un año es suficiente para que con eso me conforme.
He sobrevivido. Palabras grandes, palabras horteras, pero coño, ésta es mi vida, tengo sólo una, y la decribiré como me de la gana.
El dolor, sí, qué te puedo decir del dolor. No es que ahora no lo sienta. Pero no es más un dolor permanente. Es inocente ese dolor, como siempre, nadie trata de herirme a propósito y eso ya es bastante.
No te preocupes, no he escogido el camino más fácil, vos me conocés, pero estoy bien. No te preocupes. Y yo dejaré de preocuparme de vos.