Thursday, September 30, 2010

#137, Mehr Licht!

Liebes A.
(schreibt H. auf ihrer Karte aus dem Urlaub, um die ich sie gebeten habe.)
Hier im Urlaub ist es sehr schön. Wir haben auch schon leckeres Eis gegessen und gebadet im Meer. Das Wetter geht so.
Wie ist es denn in Berlin? Ich gebe mal den Kuli an den M. weiter.
Visto che parli italiano,
(schreibt jetzt M. stirnrunzelnd weiter) ti scrivo che non capisco cosa succede a J., forse sono i vari bicchierini di vino bianco...

Doch, ich weiß schon, was mit J. passiert. Sie hat 1. keine Lust gehabt, mir eine blödsinnige Karte zu schreiben, 2. gar nicht gewusst, was sie schreiben soll und deshalb 3. nicht etwa einfach keine Karte geschrieben, sondern mir eine Karte geschrieben, indem sie das Kartenschreiben zitiert.
Recht hast du, liebes H: Wir brauchen mehr Intertextualität im Alltag!

Wednesday, September 29, 2010

#179, Die Höhe der Zeit

Heute war ich im Buchladen. Im Hugendubel, um genau zu sein.
Im Eingangsbereich steht ein riesiger Grabbeltisch mit Mängelexemplaren. Daneben noch ein Tisch mit preisreduzierten Kochbüchern. An der Wand werden die Bücher aus der Spiegel/Spiegel-Online Bestsellerliste präsentiert. Daneben finden sich die Segmente Humor und Spannung A-Z. Davor die aktuellen Thriller, die üblichen Mankells und Larssons und Becketts und Rankins und Baldaccis, deren Titel man schon gar nicht mehr auseinander halten kann, weil alle schwarz sind und atemberaubend.
Mein Buch gibt es nicht auf dieser Etage, ich muss in den Keller. Dort steht die Literatur. Nämlich: Noch immer Orhan Pamuk, noch immer Anna Gavalda, noch immer Ruiz Zafón, noch immer der Drachenläufer, Eat Pray Love, Die unsägliche Eleganz des Igels. Beinahe könnte man glauben, Schreiben sei eine unheilbare Krankheit und nur einige Wenige besäßen den Mut, sich dem zu widmen.
Seit gut zwei Jahren arbeite ich nicht mehr in der Buchhandlung, aber ich habe auch nicht das Gefühl, etwas Grundlegendes verpasst zu haben. Den Großteil dieses Schrotts habe ich sogar gelesen. Ich bin noch immer auf der Höhe der Zeit.

Tuesday, September 28, 2010

#127, Selbsterkenntnis

Zum Zwecke tieferer Selbsterkenntnis merke ich mir allerhand merkwürdiges Zeug. Beispielsweise legte ich ein Register an, in das ich nach wissenschaftlich exakten Messwerten alle erhältlichen chinesischen Tütensuppen eintrug. Auf diese Weise ließ sich zwar meine Lieblings-chinesische-Tütensuppe ermitteln, aber leider nicht verhindern, dass sie schließlich aus dem deutschen Konsumangebot entfernt wurde: Vermutlich wird ein Inhaltsstoff normalerweise dazu verwendet, Kakerlaken zu vergiften.
Aus demselben Grund, dem der tieferen Selbsterkenntnis, weiß ich ziemlich genau, dass ich am 27. April zum letzten Mal meine Wohnung geputzt habe. Ich bin froh darüber, mir das Datum gemerkt zu haben, weil ich heute, 154 Tage später, meine Schmerzgrenze erreicht habe. Heute habe ich Staub gesaugt.
Die Alternative wäre gewesen, meine Lieblings-Tütensuppe in die Ecken zu streuen. Aber leider finde ich sie ja nirgendwo mehr.

Monday, September 27, 2010

#167, Kolportierte Lovestory

Wahrscheinlich ist das wieder so eine Geschichte, die man eben kennt, wenn man etwas auf sich hält. So etwas, das man sich mit 15 auf der Landschulheim-Woche gegenseitig weitererzählt hat. Nun gut, ich wusste es jedenfalls nicht.
Vielleicht ist es aber auch nur eine dieser Geschichten, die sich festsetzen, obwohl jede Berechtigung fehlt. Kolportage, stille Post, aus einer Mücke einen Elefanten machen.
Ich weiß es nicht. Aber mich verlockt die Vorstellung, es könnte so gewesen sein. Ich möchte es gerne glauben.
Gestern hat man mir erzählt, Freddy Mercury und Rudolf Nurejew seien ein Paar gewesen.
Eine Rampensau trifft die andere. Sie gefallen sich, undenkbar ist das nicht.
Und da sind gestern die Zügel mit mir durchgegangen. Ich fragte mich, worüber mögen wohl zwei diesen Kalibers miteinander sprechen? Wer ist da vorne, wer hinten? Können die beiden voneinander profitiert haben? Und schließlich die Frage: Könntest du mir bitte den Zucker reichen, Freddy? Natürlich Rudi, hier hast du ihn.
Wäre ein solches Frühstück möglich gewesen? Ich möchte es glauben.

Sunday, September 26, 2010

#146, Härtetest

Arbeite ich zu Hause, kann ich Musik meistens nicht gebrauchen. Ergibt sich doch einmal ein Projekt, das Musik-Begleitung verträgt, habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, zu Beginn eine Platte einzulegen und dann zu sehen, wie lange ich sie aushalten kann.
Aktuell im Härtetest befindet sich das neue Album von Arkade Fire: The suburbs.
Seit fast zwei Wochen höre ich die Platte drei bis vier Stunden am Tag. Ich kenne die Texte mittlerweilen auswendig, alle. Ich kann den Ort und die Zeit nachvollziehen, die das Album beschreibt. Ich ziehe meinen Hut vor dem Arrangement, ich lobe die klugen Gedanken, die den Texten zugrunde liegen und ich verehre die Stimmung des Albums. Vermutlich könnte ich auf Zuruf jeden einzelnen Song rückwärts peifen.
Heute habe ich jedoch nach dem sechsten Stück abgedreht. Nicht, weil ich das Album über bekommen hätte, das habe ich nicht. Die Arbeit war fertig.

Saturday, September 25, 2010

#158, Mein Frollein

Ich freue mich über alte Menschen, die so aussehen, als ob sie dem Leben noch etwas abgewinnen könnten. Besonders mag ich alte Männer. Ganz, ganz alte Männer, die Würde gewonnen haben.
Gestern hat sich in der Metro genau so einer zu mir gesetzt.
Er hatte einen feinen, grauen Schnurrbart, der in Spitzen auslief. Gekleidet war er in einen eierschalenweißen Anzug, der ihm vor mehreren Jahrzehnten einmal gepasst haben muss. Jetzt war er ihm zu groß.
Er trug einen hellen Hut und weiße Lederschuhe. Dazu stützte er sich auf einen Stock, keine Gehhilfe, stattdessen unverzichtbares Utensil, ohne das sich ein echter Dandy nicht auf der Straße hätte blicken lassen.
Er sah aus, als wäre er unterwegs zu einem Tanztee. Dorthin, wo sich die coolen älteren Herrschaften der Stadt treffen, Sherry aus kleinen Gläsern trinken und als Paar zu lauter Diskomusik tanzen.
Leider habe ich es versäumt, ihn unter einem Vorwand anzusprechen. Er hätte bestimmt Mein Frollein zu mir gesagt.

Friday, September 24, 2010

#188, Fundstück III: Alter Ego

Irmgard Keun: Selbstportrait einer Frau mit schlechten Eigenschaften (Auszug)

[...]
Meine schlechten Eigenschaften sind zahlreich und nicht umstritten.
Ich bin nicht edel. Bücher schreibe ich nicht, um die Menschen zu verbessern, sondern um Geld zu verdienen.
Ich bin faul. Wenn ich einen ganzen Tag hindurch nichts tue, habe ich nicht eine einzige Sekunde Langeweile und nicht ein einziges Mal das Bedürfnis zu arbeiten.
Ich habe keine Willenskraft. Bis zum heutigen Tag habe ich noch nicht einmal den Versuch gemacht, mit dem Rauchen aufzuhören. Zu meiner unentwickelten Willenskraft gehört auch, dass ich mich durch fröhliche Bekannte jederzeit von der Arbeit abhalten lasse und mich selten aufraffen kann, unangenehme Briefe zu schreiben.
Über Leute, die ich nicht leiden kann, spreche ich schlecht und finde das Thema erleichternd und unterhaltend.
Ich habe – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Männer lieber als Frauen. Meine Gründe dafür sind mannigfaltig. Ich selbst möchte kein Mann sein. Der Gedanke, dann eine Frau heiraten zu müssen, schreckt mich.
Ich bin sehr empfänglich für Schmeicheleien. Menschen, die mir Angenehmes über meine Arbeit und mein übriges Vorhandensein sagen, verschaffen mir eine behagliche Atmosphäre. Ich höre ihnen sehr gern zu.
[...]

Thursday, September 23, 2010

#199, Integration und Ostereier

Bei der Integrationsdebatte der letzten Monate wird ein Aspekt außen vor gelassen, den aber auch nur begreifen kann, wer selbst schon einmal längere Zeit im Ausland gelebt hat: Erst wenn du nicht mehr Deutscher unter Deutschen bist, stellst du fest, wie deutsch du eigentlich bist.
Und sobald du deine eigene Identität gegen die vorherrschende Kultur der Anderen positionierst, überfällt dich plötzlich ein Heißhunger an Eigenem. Als ich in Spanien lebte, erwischte ich mich kurz vor Ostern dabei, wie ich in der Küche Ostereier färbte. Ich färbte Eier. Andere wollen eine Moschee.
Der Unterschied liegt darin, dass ich als Deutsche im Ausland vor allem positiven Vorurteilen begegne. Je weniger aber die eigene Nationalität im Gastland Achtung erfährt, desto größer ist mein Bestreben, das zu verteidigen, was meine Identität ausmacht.
Das ist so ähnlich, wie als Süddeutsche nach Nordwestdeutschland zu gehen. Dort begrüßte mich eine Gruppe von Freunden am Flughafen einmal mit einem extra komponierten Liedchen, dessen Refrain lautete: Die Bayern können bloß rauchen/ die Bayern können bloß fressen/ bei den Bayern... da hat man das Gehirn vergessen...
Gestern gab es daher fränkische Bratwürste. Mit Kraut. Kraut mag ich nicht besonders und Bratwürste sind mir eigentlich auch egal. War trotzdem fein.

Wednesday, September 22, 2010

#63, Nur Mut

Auf die Hauswand hat jemand, lange bevor das Viertel schick wurde, einen Vogel gezeichnet.
Über dem Schnabel steht eine Sprechblase, darin eine einzelne Note.

Auf die Hauswand in Madrid hatte jemand, damals, das Wort coraggio geschrieben, Nur Mut.

Beide Graffiti waren in Kreide ausgeführt, und ich denke, es ist ihre Wesensart, dass die Dinge, die Mut machen sollen und können, immer zart sind.

Tuesday, September 21, 2010

#130, 6 Jahre altes Codein

Gegen den Husten habe ich dann doch noch mal im Medizinschränkchen gekramt und dabei einen wahren Schatz gehoben: Codicaps sind gegen „den quälenden, ja schädlichen“ akuten Reizhusten, bestehen zu 30 Prozent aus Codein und sind stark suchtgefährdend. Weitere zu erwartende Nebenwirkungen sind: Bewusstseinsstörungen bis hin zu Halluzinationen, Beeinträchtigung der visuo-motorischen Koordination und Euphorie.
Prima, denke ich und probiere die erste noch vor dem Einschlafen, wobei ich großzügig darüber hinwegsehe, dass das Medikament schon vor sechs Jahren abgelaufen ist. Vielleicht ist Codein wie guter Wein, überlege ich, und es wird mit den Jahren immer besser.
Am Morgen, nach der zweiten Ration, sehe ich etwas diesig, aber wer wird denn gleich hypochondrisch werden wegen ein bisschen Septembertrübe. Ich wanke zur Arbeit, pfeifend.
Der Husten ist übrigens weg.

Monday, September 20, 2010

#200, Leiser Druck

Dieser leidige Husten, der mich schüttelt. Die halbe Nacht belle ich hinein in die Stille, wecke die Hunde, die kleinen Nager und dich. Schon um deinetwillen möchte ich Ruhe finden, vermeiden, dich zu stören, auch den Unmut möchte ich vermeiden, dein Seufzen, deine Resignation, dein Wegdrehen.
So liege ich zwischen den Laken, spüre, wie das Jucken in der Kehle steigt, ein Jucken, das sich durch kräftiges Husten lindern ließe, wenigstens für einige Minuten. Aber deinen Schlaf gilt es zu schützen, den Unmut gilt es fernzuhalten zwischen uns und deshalb konzentriere ich mich, schon steigt mir das Wasser in die Augen, ich versuche so tief zu atmen, wie es möglich ist.
Aber da schüttelt mich schon eine neue Attacke, stärker diesmal, weil lange unterdrückt, kaum komme ich zum Atmen, mein Husten klingt wie herausgekratzt aus einem rostigen Kessel.
Natürlich bist du wach. Kein Mensch kann bei dem Krach schlafen. Aber du zeigst keinen Unmut, kein Seufzen, keine Resignation, kein Wegdrehen.
Du legst mir die Hand auf die Rippen, mit leisem Druck, darunter dürfte die Lunge sein. Als sei ich ein kleines Mädchen beruhigst du mich, mit deiner Hand, mal hier, mal da, immer mit leisem Druck, und davon schlafen wir ein.

Sunday, September 19, 2010

#200, Nachtrag Griechenland: Die Ehre des dicken Mannes

Die Großmutter lag schon am Strand, als wir kamen, ihre riesigen Brüste sehen aus wie zwei rote Gummibälle, die jeden Moment davonhüpfen könnten. Es tritt jetzt auf die griechische Großfamilie: Zuerst der ältere Möchtegern-Schönling mit Pferdeschwanz (und Goldkettchen) samt blondierter Frau und zwei Kindern. Danach eine Extra-Frau, blass und mit unvorteilhaftem String. Alle sind deutlich übergewichtig, das Ausziehen gerät in Körperfalten, alles scheint sich hier in Falten zu legen, Fleischpartien stoßen aufeinander, die normalerweise durch mehrere zwanzig Zentimeter voneinander getrennt sind.
Als Nachzügler stapft nun auch der jüngere Bruder zur Familie, der Ehemann des pastellfarbenen Tangas. Ist der Rest der Familie samt den dicklichen Kindern nah an der Grenze zur Karikatur, ist der jüngere Bruder ein ganzes Stück darüber hinausgeschossen: Er ist eine Witzfigur. Er sieht aus wie Mr. Bean in fett und kahl, er läuft wie eine Ente, seine Badehose trägt er fast bis zum Hals hinaufgezogen.
Dann aber steckt er sich eine Zigarette an und läuft hinein ins Meer. Mit dem Wasser bequem bis zur Brust steht er da, sieht sich um, raucht. Es ist eine Geste mediterraner Männlichkeit, die ich lange schon nicht mehr gesehen habe. Und ich freue mich mit ihm, dass er sie wiederentdeckt hat.

Saturday, September 18, 2010

#199, Nachtrag Griechenland: Welcome to Greece!

Wir haben gerade unser Gepäck bekommen und orientieren uns an den Schildern, auf denen Exodos steht, wir wollen ans Meer.
Da ruft uns von rechts ein übergewichtiger Mann mit Schnurrbart an, Come! Come!, er sieht so ernst aus, dass wir hingehen. Es stellt sich heraus, wir sind bei der Drogenkontrolle gelandet. Der dicke Schnurrbartträger ist weiterhin ernst, er fährt mit einem riesigen Wattepad in alle Öffnungen meines Rucksacks, oder zumindest in die, die er findet, und wird immer ernster, je weniger das Gerät an der Seite Drogen melden will, so oft er ihm den Wattepad auch unterschiebt.
Als sich gar nichts machen lässt, widmet er sich ausführlich meinem Penicillin, und ich scherze ein wenig, das sei doch legal? Aber der Schnurrbart zittert nicht einmal, dies ist nun wirklich ein ernsthafter griechischer Beamter. Der am Ende einsehen muss: Gegen meine Legalität ist er machtlos, er muss mich gehen lassen. Mit einem Welcome to Greece! jagt er mich aus dem Separee.
Mich dagegen hat das Intermezzo angeregt, ich freue mich darüber, dass ich scheinbar trotz meines Deuter-Rucksacks, meines Esprit-Shirts und meines akzeptablen Haarschnitts nicht halb so bürgerlich wirke, wie ich manchmal fürchte, sondern noch immer für ein subversives Element gehalten werde.

Friday, September 17, 2010

#183, Nachtrag Griechenland: Nephele

Der Himmel über Berlin (der so oft beschrieben wird, von Neruda, Wenders, Brecht) ist grau und wolkenverhangen. Mit dem Flugzeug durchbrechen wir wenig später die Wolkendecke und von oben betrachtet fällt es mir so schwer wie eh und je, eine simple Erklärung zu akzeptieren: Wasserdampf.
Denn über den Wolken scheint die Sonne, sie wirft Schatten, und die Wolken sehen wirklich aus wie weitläufige Landschaften, mit Bergen und Tälern und Ebenen, und wem das jetzt wie ein Gemeinplatz wirkt, der hat eben zuviel gelesen, Neruda, Wenders, Brecht. Für mich sieht das da unten eindeutig aus wie eine Sahnelandschaft, wie Kissen, die Nationen bilden, wie Schneeformationen und auf jeden Fall wie etwas, auf das man den Fuß stellen kann und hernach in die Harfe greifen, Halleluja, hier oben scheint die Sonne!
Alles, beinahe alles scheint mir erklärbarer als: Wasserdampf.
Zwei Stunden später sind wir da, und ich blicke nach oben, potzblitzblau, ich sehe keine einzige Wolke. Dass der Wasserdampf so schnell verdampft sein soll, scheint mir unmöglich. Ich denke, jemand mit so einem Hunger wie dem meinen hat einfach den ganzen Himmel leer gegessen.

Thursday, September 16, 2010

#198, Die Schönheit moderner urbaner Frauen (Achim)

Manchmal sehe ich Frauen, die mit schnellem Schritt ihr offenes Gesicht durch die Straßen tragen und dann doch an der nächsten Ecke sicher die Treppen des U-Bahnschachts finden. Wenn ich auf der Mauer sitze, folge ich ihnen ein Stück. Sie kommen von links, fahren durch das Gemüt wie der Wind, der in die Blätter greift, halten den Blick eine Weile gefangen, ziehen ihn mit an mir vorbei, von Baum zu Baum, und lassen ihn irgendwo hinter sich wieder abfallen. Ich wende den Kopf und sehe schon eine neue kommen, die meinen Blick zu fangen vermag.

Würde ich nicht auf der Mauer sitzen und ausharren, so würde mich ihre Erscheinung arg verwirren. Nur daran zu denken, wie sie mit schnellem Schritt dem, was sie sehen, freundlich entgegentreten, lässt mich im Geiste taumeln. Ganz ähnlich sehe ich in den Schnee: Ich halte einige der tanzenden Flocken im Blick, senke mit ihnen mein Haupt, belasse die übrigen im Hintergrund, und so wie ich den Kopf wieder hebe, fallen sie frei zu Boden. Die Einladung zur rasanten Fahrt des Blicks macht sie schön – und würde ich nicht auf der Mauer sitzen und zusehen dürfen, so wäre ich längst in einer Raserei gefangen.

Wednesday, September 15, 2010

#74, Ich möchte lieber nicht.

Ich habe rasende Kopfschmerzen, alles Andere dagegen ist langsam und dumpf. Das Medikament kann ich nicht nehmen, wenn ich keine Nebenwirkungen riskieren will, die ich nicht riskieren will. Meine Gedanken fühlen sich an wie geschlagener Hefeteig.
Ich rufe meine Chefin an, um für morgen abzusagen, und für einen Moment vergesse ich alles Unbill und bin glücklich: Als ich nämlich an morgen denke, und wie ich den langen Tag einfach nur meiner Genesung widmen werde.

Tuesday, September 14, 2010

#83, Schnippchen schlagen

Vor kurzem hat mir ein Brasilianer erzählt, was er für das grundlegende Berliner Handlungsaxiom hält: 9 Monate wartet man darauf, dass es 3 Monate lang warm ist.
Ich stimme ihm zu. Nie werde ich verstehen, warum Menschen, die noch dazu nicht einmal Kinder im schulpflichtigen Alter haben, Berlin im Sommer verlassen wollen, um anderswo Urlaub zu machen.
Ich dagegen sehe heute aus dem Fenster, es regnet, es ist grau, mein Hals kratzt und ich denke:
Am Samstag liege ich in Griechenland am Strand.

Monday, September 13, 2010

#166, Auch Nackte sind Menschen

Wir waren mit den Rädern auf dem Teufelsberg. Da war es wirklich heiß und es gab teuflisch viele Mücken. Die Abfahrt führte uns an einen Punkt, wo es hieß: Rechts am Zaun entlang zum Badestrand.
Und plötzlich, inmitten des Naturschutzgebietes, räkelte sich vor uns eine Kolonie von Nudisten. Wir setzten uns, aßen Kekse. Tatsächlich hat soviel Nacktheit für den Angezogenen etwas Aggressives. Auch wir hätten uns ausziehen sollen, nicht der Nackten halber, sondern um uns weniger bedrängt zu fühlen.
Doch als uns das klar wurde, war die Sonne bereits verschwunden, auch die Nudisten packten die Decken weg, suchten ihre Kinder zusammen und begannen, sich wieder anzuziehen. Vor meinen Augen verwandelten sie sich mit jedem Kleidungsstück, das sie anlegten, sie wurden wieder zu rechtschaffenen Mitgliedern unserer Gesellschaft, zu Menschen, die man auch in der Metro hätte treffen können.
Manche von ihnen überholten wir auf dem Nachhauseweg, sie standen, gingen, saßen unter den Bäumen. Man erkannte sie immer, an einem gewissen Schlendrian nämlich, einer Entspanntheit in der Bewegung.

Sunday, September 12, 2010

#146, Die Weisheit meines Philosophieprofessors (Achim)

Manchmal erreichen mich Briefe vom Staat, die so hässlich sind, dass nur Perverse den Mut finden können, ihre Unterschrift darunter zu setzen. Ich lese sie und denke an Bomben und tobe, weil ich grade keine zur Hand habe. Denn weder Bildung noch Geduld noch Intellekt können genügen, um mit den Konsequenzen dieser Briefe zurecht zu kommen.

Eine Möglichkeit zu antworten wäre es, Bomben zu bauen. Eine andere lernte ich von meinem Philosophieprofessor: „Sei charmant, wenn Du tobst“ gab er mir zwischen Tür, Gruß und Angel mit auf den Weg. Nur: Wie soll ich das anstellen: toben und zugleich charmant sein? Kann es das geben, eine liebenswerte Art, wütend zu sein? Ich habe kein Bild von einem Menschen vor Augen, der mit Charme tobt, wünsche mir aber, dass ein solches Bild, wenn es denn gelingen kann, schön ist.

Saturday, September 11, 2010

#50, Die Schönheit von Neukölln

Wieder nicht mit der Arbeit begonnen, sondern mit Lu spät zum Frühstück gegangen. Auf dem Weg J. getroffen, den letzten Sommertag genossen, Kaffee getrunken.
Noch einmal J. getroffen, sitzen geblieben, obwohl es schon Zeit war zu gehen, den seltsamen Neuköllner Radfahrern hinterher gesehen, weiter geredet, nachgedacht und nicht voneinander gelassen.

Friday, September 10, 2010

#200, Sarrazin und meine Hände

Über dieses Sarrazin-Buch sprachen wir. Seine Thesen nannte ich unhaltbar und rassistisch, weil ich die taz lese, T. dagegen hielt sie für bedenkenswert, weil er die Süddeutsche liest.
Das Buch selbst hatte keiner von uns beiden jemals geöffnet. Als wir merkten, dass wir jeweils die Meinungen Dritter wiedergaben, mussten wir lachen: Subjektivität ist doch etwas Schönes.

Ich erinnere mich an eine verwickelte Geschichte, die, ganz im Ernst, mit meinen Händen zu tun hat. Ich hasste meine Hände, weil mir R. einmal gesagt hatte, dass sie hässlich seien. S. dagegen, der mit H. zusammen war, fand meine Hände hübsch, hübscher als die H.s, was er ihr auch sagte. Ich hatte jahrelang Komplexe wegen meiner Hände, während H. jahrelang Komplexe wegen ihrer Hände hatte und mich um meine beneidete. Auch hier brachen wir in Gelächter aus, als wir einander die Geschichte später erzählten: Subjektivität ist auch etwas Gefährliches.

Heute habe ich ein abgeklärtes Verhältnis zu meinen Händen. Und zumindest die ersten vierzig Seiten von Sarrazins Buch habe ich mittlerweile überflogen. Ich kann bestätigen: Es ist dumm, und was noch schlimmer ist, auch für Dumme geschrieben.
Immer mehr glaube ich, dass nur ein persönlicher Standpunkt mich vor den Albernheiten der Anderen schützen kann.

Thursday, September 9, 2010

#199, Lohn der Geduld (Achim)

Andreas sagt: „Du ziehst diese Typen an!“ Keine Ahnung, wie ich das mache, und wer „diese Typen“ sind, kann ich auch nicht genau sagen. Jedenfalls Typen, mit denen ich in Streit gerate. Und weil Andreas Frieden will, mahnt er zur Gelassenheit. Vor drei Tagen habe ich beschlossen, freundlich zu diesen Typen zu sein, um jeden Preis. Sonntag dann setzt sich einer dieser Typen ungefragt auf meinen Stuhl, nimmt seinen Rucksack auf die Knie und lehrt den Inhalt des Rucksacks auf den Stuhl von Andreas. Ich sehe ihm stehend zu, er mag das nicht, guckt böse. Ich hingegen gucke freundlich und neugierig. Sobald alles auf dem Stuhl liegt, sucht er sich einige Dinge aus, die zurück in den Rucksack kommen. Übrig bleibt eine alte Zeitung, eine Wasserflasche ohne Pfand, ein paar gebrauchte Taschentücher, eine leere Zigarettenpackung, Kronkorken und ein defektes Feuerzeug, das vermutlich beim Öffnen der Bierflaschen kaputt ging. Der Typ steht auf, grummelt und verschwindet. Ich wünsche ihm einen schönen Tag und sichte neugierig das Zeug, das er mir überlassen hat. „Kanntest Du den?“ fragt meine Nachbarin. Nein, natürlich nicht. Und auch wenn er nur dreist seinen Müll bei mir aussortiert hat, fällt es mir schwer, das Zeug wegzuwerfen.

Wednesday, September 8, 2010

#109, Auftragsarbeit

Schreib doch mal was über die Pappeln vor dem Fenster, schlug mir S. vor kurzem vor.
Und heute sehe ich aus dem Fenster und ich sehe die Pappeln und der Wind wirft sich rhythmisch zwischen die Bäume und ich denke:
Das werde ich vermissen, wenn ich von hier weg gehe.
Pappeln sind keine seltenen Bäume, man findet sie bisweilen, in Hinterhöfen, vereinzelt, vielleicht also habe ich Glück. Aber diese Hinterhofallee hier, die steht wie aus einer anderen Zeit. Vor grauem Himmel vermitteln die Bäume den Eindruck einer Trutzburg, im Sommer denkt man an Ausflüge in Pferdekutschen, alle Frauen in weißen Kleidern.
Es sind sicherlich die schönsten Pappeln der Stadt.

Tuesday, September 7, 2010

#198, Aufzug (Achim)

Wir stehen vor einem herrschaftlichen Altbau, Klingeln in Marmor, Rechtsanwaltschildern, und im Treppenhaus ein Aufzug aus Glas, so wie in großen Warenhäusern. Wir benutzen die Treppe, denn wir haben versäumt zu fragen, in welchen Stock wir müssen. Die Wohnung zeigt Luxus, der nichts als Luxus verrät. Ein frischgewaschener schneeweißer Riesenpudel berührt immer wieder mit der Nase mein Knie, um mich zu beruhigen. Nach einigen Minuten entscheide ich, draußen zu warten. Karl versteht das: „ich komme zurecht, geh nur!“

Während Karl in den Kisten die billige Popmusik durchsieht, sitze ich auf einem Poller vor dem Esoterikladen an der Ecke. Eine schlanke Frau mittleren Alters räumt Kitsch, Krempel und Klamotten in sanft bunten Tibetfarben auf die Straße. Ab und an kommen und gehen ähnliche Frauen. Wenn sie den Esoterikladen verlassen, blicken sie freundlich zu mir rüber, kurz nur, um ihrem sanften Blick ein Gegenüber zu gönnen, ohne nahe zu kommen. Mein Gesäß wird kalt, ich wechsele auf den anderen Poller, der schon Sonne hat. „Leg Dir was unter!“ riefen mir die Penner vor Jahren zu. Ich vertraue Profis. Nach zehn Minuten steht Karl im Eingang, schleppt den Pop, grinst frech. Ich will weg „gib Gas!!“ rufe ich auf dem Beifahrersitz.

Monday, September 6, 2010

#197, Nachtrag: Those were the days my friend

Bei uns im Dorf gab es früher noch einen richtigen Bäcker. Also einen Laden, in dem man drei Sorten Brot, Kirschtaschen, Puddingplunder und zu Fasching Krapfen kaufen konnte.
Jeden Tag ist der alte Bäcker in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um für uns Nahrung herzustellen. Die Brötchen waren ewig frisch, der Puddingplunder keine weiße Matsche, auf der fingerdick die Zuckerglasur liegt. Und es war noch die Zeit, als man einen Unterschied schmecken konnte zwischen den Sachen, die unser Bäcker morgens verkaufte und den Backartikeln aus dem Nachbardorf.
Jeden Sonntag hat meine Mutter dem Bäcker den Fehdehandschuh hingeworfen, als sie sagte: 10 Brötchen, bitte! Da stellte sich der Bäcker taub, 10 WAS? 10 Semmeln mächadst?
Da nickte meine Mutter gottergeben, bestellte weiter: Und 3 braune und 1 weiße Breze.
Die weiße Breze war für mich. Die weiße Breze war nicht aus Laugenteig, und sie hatte feines Salz anstatt des groben.
Ich erinnere sie als relativ trocken und hart, vielleicht war die Erfindung unseres Bäckers noch nicht vollständig ausgereift. Aber die weiße Breze gab es nur bei uns im Dorf, das war mir schon als kleinem Mädchen klar. Heute denke ich die weiße Breze wie sagenumwoben, wie Einhorn, Traumprinz oder Schneekönigin.

Sunday, September 5, 2010

#105, Muskelkater in den Armen

T. sagt zu mir: Komm, wir gehen Motorrad fahren.
Nach fünfhundert Metern, noch in der Stadt, habe ich begriffen, wo ich mich festhalten soll, auf der Autobahn verstehe ich ganz plötzlich, was T. gemeint hat, als er sagte: Gut festhalten.
Die Beschleunigung von so einem Motorrad habe ich gehörig unterschätzt, und gut halte ich mich erst fest, nachdem mich der erste Satz nach vorne beinahe hinten hinuntergeweht hätte.
Bei 200h/km beschließe ich, nicht mehr hinzusehen, und als T. sich nonchalant zwischen Lastwagen und PKWs drängt, höre ich auch auf, mich zu sorgen: Im Angesicht des Todes gilt es, unbedingt auf die Fähigkeiten Anderer zu vertrauen.

Saturday, September 4, 2010

#200, Postkarten aus Pankow (Achim)

Seit Jahren bin ich nicht mehr gereist. Weg war ich schon mal, klar, auch in anderen Ländern, aber nicht um zu reisen, sondern um dort, statt hier zu sein. Aus alten Zeiten verwahre ich ganze Stapel mit Postkarten in meinem Regal. Gestern habe ich sie hervorgeholt.
 
Ich will wieder reisen, nach Wien oder Italien, in die Berge oder ans Meer. Und ich habe mir vorgenommen, die Postkarten, die ich vor über zehn Jahren unterwegs gekauft habe, nun endlich zu verschicken. Noch sind sie nach Reisen sortiert, in der Reihenfolge, in der ich die Orte nach und nach besucht habe. Ich werde sie auf das Bett legen und neu sortieren: Nach Empfänger. Die Postkarten aus Wien bekommt die Freundin in Wien, die aus London und Italien bekommt Johannes, die aus Spanien meine Eltern und meine Ex, die aus Füssen bekommt Eva, die aus Schottland bekommen Jochen und Brigitte. Die aus Pankow behalte ich.
 
Briefmarken für Postkarten ins Ausland habe ich schon, die gab es im Kiosk gleich an der Ecke. Sie alle zu verschicken ist leicht bezahlbar, günstig wie ein Flug. Ich habe den Packen grob überschlagen: Er reicht für ein Jahr – dann sind die Postkarten dort, wo sie hingehören.

Friday, September 3, 2010

#45, Einfach packen

Das Schöne am Stress, jedes Wochenende woandershin zu reisen, ist: Man räumt am Montag Morgen schnell noch die Sachen aus dem Rucksack, lässt sie irgendwo liegen, weil man anderes zu tun hat, und kann zumindest die nicht getragenen Klamotten am Freitag Nachmittag gleich wieder einpacken.

#138, Nachtrag: Mail aus dem Nichts

Mein Leben war bislang, wie es sich mir darstellt, eine wahllose Verknüpfung von Ereignissen.
Wie man zufällig an schwierige Männer und in fremde Länder geraten kann, weiß ich auch nicht.
Aber es passiert, mir zumindest.
Entscheidungen, die diesen Namen verdienen, habe ich jedenfalls wenige getroffen. Meistens war da nur eine Situation, und ich habe entsprochen, bin umgegangen.

Entscheidungen sind ihrem Wesen nach schwierig, man akzeptiert das Eine und verwirft das Andere. Beidem gerecht wird man nicht.
Und wenn sich dann aus dem Nichts plötzlich die Entscheidung vor einem aufbaut, breitbeinig, einen langen Schatten werfend, greift man in die linke oder die rechte Hosentasche. Mehr ist nicht nötig.

Ich habe entschieden, jemandem weh zu tun. Glücklich bin ich damit nicht. Aber ich bin mit einem großen Schritt über den Schatten gestiegen, und auf der anderen Seite ist alles ruhig.

Wednesday, September 1, 2010

#200, Liebeserklärung um Viertel vor neun

Ich kenne das Personal der Metrostation Rosenthaler Platz recht gut. Der junge Punk, der jeden Morgen auf der Treppe hockt, grüßt mich seit einiger Zeit.
Es gibt auch eine Bäckerei dort, jede zweite Woche hat ein hübsches dunkelhaariges Mädchen die Frühschicht. Ich mag das Mädchen, obwohl die Bagels nie fertig sind, wenn ich vorbeikomme, dann kaufe ich eben etwas anderes.
Auch, als ich mich vor kurzem im Tresen verhakt hatte, kam sie mir nicht zu Hilfe: Dit krieg ich ooch nich uff! meinte sie achselzuckend, ich habe mich dann selbst befreit. Flott ist sie nicht, freundlich auch nicht, deshalb sympathisiere ich mit ihr: Ich würde ihren Job genauso machen.
Heute war sie kaum dazu zu bewegen, mir überhaupt irgendetwas zu verkaufen. Nicht mal herankommen wollte sie. Als ich um die Ecke schaute, sah ich auch den Grund: Da lümmelte ein junger Mann am Bistrotisch, wahrscheinlich einer von denen, die die U-Bahnen reparieren, jedenfalls trug er eine orange Weste mit Streifen. Verdammt hübsch war er, der junge Mann, groß und breitschultrig. Und vor ihm, auf dem Bistrotisch, lag ein riesiger Strauß roter Rosen.
Die beiden sind ein Traumpaar, vor dessen Pracht ich mich nur verneigen konnte: Ich ging ohne meine Müslistange.