Sunday, October 31, 2010

#162, Alternative Leben

O. ist 40 geworden, dabei sieht er aus wie 30. Das kommt vom jahrelangen Nicht-Rauchen und Orangensaft-Trinken. Auch ich habe darüber nachgedacht, ob das eine gangbare Alternative wäre, ein Leben jenseits der lauten Rockkonzerte, des Tabaks und des letzten Drinks, der immer der eine zuviel ist.
Deshalb war ich heute auf O.s Geburtstagsparty, die auf 11 Uhr vormittags angesetzt war, mitten im idyllischen Brandenburg. Wir haben Frisbee gespielt, Riesenseifenblasen gemacht, wir waren auf Schnitzeljagd. Die Atmosphäre war die einer freundlichen Familienfeier, allerdings ohne dass man zuvor die Familie gekannt hätte. Ich habe mich amüsiert.
Am Ende des Nachmittags musste ich allerdings einsehen, dass ich die Einzige war, die es trotz diverser Hunde und Kleinkinder geschafft hat, verstohlen mehrere Zigaretten zu rauchen und sich mit dem Glühwein, der wohl eigentlich nur zum Aufwärmen gedacht war, zu betrinken. Vielleicht bin ich noch nicht bereit für mein alternatives Leben, vielleicht wird mein alternatives Leben aber auch eher mit Rockmusik und alternierenden Lieblings-Drinks zu tun haben.

Saturday, October 30, 2010

#147, Ödipus auf Cuba

Zeitgenössisches Theater, das ist ja ganz oft: Zigarren rauchen auf der Bühne, sich mit Wasser übergießen oder sich anzünden, Orangen essen, Fäkalien essen, Orangen auf dem Kopf des Spielpartners zerquetschen und danach die Fäkalien, schreien, schubsen, autistisch vor sich hinlallen, ins Publikum kotzen oder doch nur ein bisschen hineinschimpfen. Der zeitgenössische Regisseur wird all seine handwerklichen Tricks in die Waagschale werfen, um zu verhindern, dass ein Text halbwegs ordentlich gesprochen wird, was er als persönliche Niederlage werten würde.
In dem Stück gestern Abend kamen vor: Zigarren, Wasser, Orangen. Keine Fäkalien. Vielleicht lag es ja daran, dass es einer, der Jüngsten, gelang, für einen kurzen Moment zu schauspielern und mit mir im Publikum in Verbindung zu treten. Für wenige Minuten war es mir möglich, das, was sie beschrieb, am Bühnenrand stehend, ins Weite blickend, vor mir zu sehen. Wie einen Film ohne Ton. Dann gingen wieder die Orangen los.

Friday, October 29, 2010

#20, Erfindungen (Achim)

Einmal fand ich eine Frau, die liebte es, erfunden zu werden. Leider war sie schon vergeben. Sie ist schön geworden.

Thursday, October 28, 2010

#22, Gesellschaftlich anerkannte Winter-Aktivitäten

Allmählich kann man auf die sportlich gestellte Frage nach: Und? Was hast du gestern gemacht? einfach wieder antworten: Geschlafen. Und jeder versteht's.

Wednesday, October 27, 2010

#200, Jäger und Sammler

Nun gut, auch das Jagen macht mir Spaß. Eigentlich aber bin ich ein Sammler, und auch das klingt noch zu sehr nach Vitrine und nach kleinen geschliffenen Glasfigürchen. Da ich im Erhalten von filigranem Dekorationswerk nie besonders gut war, möchte ich mich eher als Bewahrer bezeichnen.
Wenn ich Personen erst einmal Zutritt zu meinem Leben gewährt habe, möchte ich mir diese Personen bewahren. Soviel Arbeit, soviel Energie, auch soviel Vertrauen steckt in jeder Art Zwischenmenschlichkeit. Auch habe ich ein schlechtes Gedächtnis, und die besten Geschichten über mich erzählen immer meine Freunde.
Natürlich, manche Kontakte habe ich selbst abgebrochen. Und manche Beziehungen zu Frauen haben nach und nach aufgehört, weil uns die Themen ausgegangen sind. Die Männer dagegen: benutzen ihre Intuition, reißen sich einfach heraus aus dem feinen Gespinst, hinterlassen abgerissene Fäden, sind weg und betrachten dies als gerechte Strafe.
Manche jedoch geben sich auch irgendwann einen Ruck. Je nach Temperament kann das Monate dauern oder Jahre, aber manchmal, gegen Herbst, kommen sie wieder. Dann trudeln E-Mails ein aus Kreuzberg, Schweden oder Italien, und klammheimlich, bevor noch irgendjemand etwas merkt, verknüpfe ich flink die Fäden.
Hätte ich Figürchen, ich würde sie einfangen, abstauben, neu gruppieren und mich an ihrem Anblick freuen.

Tuesday, October 26, 2010

#199, Die Geigenvirtuosin (Achim)

Schon seit Jahren kenne ich sie. Sie steht jetzt am Eingang zum Markt, doch schon früher ist sie mir aufgefallen, wo, das habe ich vergessen. Sie scheint ein einfaches altes Mütterchen aus Rumänien zu sein, das mit der Geige als letztem Wert vor Jahren nach Berlin kam, alleine. Jahrelang hat sie aus der Geige keinen sauberen Ton herausbekommen, wackelt im Klang zäh und zaghaft um verschwommene Vierteltöne, ohne dabei eine Melodie im Sinn zu haben, ohne Noten sowieso, einfach nur lauschend, wie das, was sie macht, klingt. Dennoch sammelten sich ein paar Münzen vor ihren Füssen. Vielleicht spielt sie absichtlich so, um die Ausweglosigkeit ihre Lage zu betonen, vielleicht meidet sie auch nur jede Melodie. Oder sie gehörte zur rumänischen Avantgarde, deren Musik noch unbekannt verboten wurde, und nun probt sie in Berlin mit neuem Publikum. Viele tausend Menschen werden sie schon kennen. Abends läuft sie über den Markt, gelassen und mit ernstem Gesicht, wie ein müder Star, schaut nicht nach Handys, Markenklamotten oder Küchenutensilien. Sie nickt mir zu, Woche für Woche, und verschwindet mit den Händen in den Taschen. Wenn ich ihr nachblicke bin ich stolz sie zu kennen, und ich bewundere das, was sie zu leisten vermag.

Monday, October 25, 2010

#198, Lieblingshormon

Oxytocin ist ein Hormon, das vor allem bei Massagen, beim Streicheln und beim Orgasmus ausgeschüttet wird. Es trägt zur Vertiefung der Paarbindung bei und ist ausschlaggebend für Emotionen wie Vertrauen oder Liebe. Es wirkt auf eine Gehirnregion namens Amygdala, die ihrerseits für die Bewertung von Situationen und die soziale Interaktion zuständig ist.
Heute morgen klingelt der Radiowecker, und die erste Nachricht des Tages lautet: Drei Männer haben heute Nacht einen Pfandflaschensammler überfallen und ausgeraubt. Schon ist es vorbei. Mit dem Vorsatz, diese Woche beschwingt anzugehen. Mit dem frischen Vertrauen in die Menschheit, das sich über das Wochenende gebildet hat.
Ich meine, wer eine Schweizer Bank ausrauben oder in Charlottenburg einen Mercedes knacken will, dem wünsche ich viel Glück. Aber zu dritt einen Pfandflaschensammler zu überfallen, der sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen hat, um in der Kälte Flaschen aufzulesen, das ist wirklich der Gipfel der Schäbigkeit.
Den halben Tag trage ich nun diese Nachricht schon mit mir herum, sie wird nicht besser. Dann kommt mir die Idee: Ich werde auf e-petitionen ein Bürgerbegehren starten: Oxytocin als Nasenspray, zwangsverabreicht ab dem 19. Lebensjahr. (Erste Versuche gibt es schon.) Davon kann doch die Welt eigentlich nur besser werden.

Sunday, October 24, 2010

#192, Baked by Amanda

L. kommt spontan zu Besuch und erzählt von ihrer Reise nach New York: Die Museen, die sie besucht hat, die Freundinnen, die sie wieder getroffen hat und vor allem ein klitzekleiner Laden mit cupcakes, den sie entdeckt hat. L. berichtet, der Laden sei kleiner gewesen als meine Küche (was für L. schon sehr klein ist), und dass sie es nie geschafft habe, tatsächlich einen cupcake von Amanda zu probieren, weil riesige Trauben von New Yorkern vor den Türen ein Passieren unmöglich gemacht hätten.
Ich habe ein Äquivalent zu Amandas Bäckerei. Es ist dieser Dönerkiosk am Mehringdamm, an dem ich recht oft vorbeikomme. Selten ist die Schlange davor kürzer als zehn Meter, und schon lange hege ich den Plan, dort einen der Döner mit Gemüse zu probieren. Leider ließen sich die beiden bestimmenden Komponenten – Hunger haben und gleichzeitig eine kurze Schlange vorfinden – bisher nicht miteinander vereinen.
Zu L. sage ich: Naja, du hast ja nichts Großartiges verpasst. Schließlich hättest du bei Amanda auch bloß einen Muffin mit Blaubeer-Überzug gegessen. Und ich würde am Mehringdamm am Ende auch nur einen Döner mit Gemüse essen.
Aber wir beide wissen, dass es darum überhaupt nicht geht.

Saturday, October 23, 2010

#181, Kanji (Achim)

Vor neun Jahren habe ich mir 2000 Karteikarten gekauft – für die 1945 Kanji, japanische Schriftzeichen, die jeder, der von sich behaupten will, Japanisch zu können, lernen muss. Ein paar der Karten habe ich tatsächlich mit diesen Zeichen beschrieben, doch der Rest der Karteikarten dient mir seitdem als Notizzettel. Überall liegen sie herum, genutzt für Einkaufslisten, Telefonnummern, Zitate und poetische Wendungen, die in ungeschriebene Romane oder Geschichten gehören. Allein neben dem Laptop liegen locker 100 dieser Stichworte. Ab und an räume ich auf, sehe mir ein paar der Karten an, und wenn mir die Notizen nichts mehr sagen und ich mich nicht an die Geschichte erinnere, für die sie stehen, werfe ich sie weg. Heute habe ich nachgesehen: Noch 450 sind übrig, die reichen genau drei Jahre. Gestern habe ich 15 Stück weggeworfen. Das war schön, denn die Geschichten zu den Notizen kannte ich noch, und die Karten erwiesen sich wider Erwarten als nützlich. Der Berg neben dem Laptop wirkt gleich hoch, doch das macht nichts, noch habe ich Luft und 450 neue Karten, genug Spielraum für Dinge, die ich unbeschwert wieder vergessen werde.

Friday, October 22, 2010

#199, Stimmen in der Nacht

- Na, wo soll’s denn hingehen?
- In die XX-Straße bitte, auf der Höhe vom Z. Kennen Sie das?
- Na klar, in der Kneipe habe ich früher oft gefrühstückt.
- Wollten wir vor kurzem auch mal, war aber zu teuer.
- Zu teuer?
- Klar, die verlangen 8 EUR extra, wenn eine Band spielt.
- Ach so! Na, ich lebe schon lange nicht mehr in Kreuzberg.
Und wie heißt nochmal diese Kneipe neben dem Kino? Ich kann mir keine Namen merken...
- Keine Ahnung. Das mit den Namen geht mir genauso.
- Gesichter – kein Problem! Orientierung – kein Problem! Aber Namen?
- Orientierung ist bei Ihrem Job sicher auch wichtiger, oder?
- Klar... wenn ich mal einen Gast nach Hause gebracht habe, dann vergesse ich ihn nicht mehr. Wenn ich die Stimme wieder höre, erinnere ich mich auch wieder an die Adresse.
- Sicher! Sie fahren ja nachts! Sie sehen Ihre Fahrgäste nicht, Sie hören nur die Stimme, oder?
- Ja... jetzt kann ich zum Beispiel nur sagen, das Mädchen sitzt hinter mir, der Mann rechts.
- Ich habe Sie auch nicht gesehen beim Einsteigen. Ich höre Sie nur.
...

Beim Aussteigen dreht sie sich um. Eine weißblonde Taxifahrerin, 65, sie hat es mir erzählt. Wir sehen uns an, wir werden uns wiedererkennen.

Thursday, October 21, 2010

#70, Vollmond

Für den mondscheinliebenden Arbeitnehmer ist der Winter die perfekte Jahreszeit: Schon ab sechs Uhr abends kann man ausgestreckt quer über dem Bett liegen und stundenlang den hellen Mondschein auf der Haut bewundern.
Meine Großmutter sagte immer, ihr Mann benehme sich eigenartig bei Vollmond. Wahrscheinlicher ist es, dass auch er, anstatt die Tagesschau der 60er Jahre anzustellen, es vorgezogen hat, den Mond anzusehen, bis er schließlich aus dem Fensterausschnitt verschwunden war.

Wednesday, October 20, 2010

#198, Laub im Flur (Achim)

Kommen Sie rein, lassen Sie die Schuhe an, und lassen Sie die Tür ruhig auf, das Laub wird in den Flur wehen, ich habe nichts dagegen. Sie reicht mir ihre knochige Hand. Ich will den Gruß schon lösen, doch sie hält mich fest, spricht noch ein paar Worte und zieht mich dann hinein in das Haus. Die Wohnung könnte die meiner Oma sein, bescheiden eingerichtet, ordentlich, dennoch Zeichen von Wohlstand und in Anstand gelebter Bildung. Vivaldi sagt sie, hätte er gemocht. Sie seufzt leicht. Ich bin gespannt auf den Rest. Ich trage die erste Kiste zum Auto, den Weg entlang der Wiese mit den alten Bäumen. Im Nachbarhaus sehe ich im Licht des Wohnzimmers eine ebenfalls greise Dame hinter ihrem Laptop sitzen, umringt von peinlich gepflegten Zimmerpflanzen – ein sonderbares Bild. Und beim Abschied sehe ich tatsächlich ein paar herbstliche Blätter im Flur. Ich habe die Dame im Verdacht, sie selbst verstreut zu haben, denn ich habe keinen Wind bemerkt, der sie hineintragen könnte. Ich komme erneut an dem Fenster vorbei. Die greise Frau hebt ihren Kopf und strahlt mich an. Und wie verwandelt sehe ich staunend in das Gesicht einer jungen Frau, einer Schönheit mit gelocktem hellblondem Haar.

Tuesday, October 19, 2010

#199, Der traurigste Ort der Welt

Wenn es mir einmal nicht blendend geht, öffne ich gedanklich die Tür zur Bäckerei. Die Bäckerei ist der traurigste Ort der Welt.
Hinter der Theke steht ein junges Mädchen, das froh ist, einen Job zu haben. An einem der drei runden Tische sitzt eine Frau mit verlebtem Gesicht und tiefen Augenringen, die froh ist, ihr Gebäckstückchen bezahlen zu können. Daneben sitzt eine andere Frau, die Sozialpädagogik studiert hat, wie man an ihrem bunten Tuch erkennen kann. Diese Frau ist froh, hier ihren Tee zu trinken und einmal nicht den Mann ansehen zu müssen, den sie nicht mehr ertragen kann.
In einem kleinen Fernseher an der Wand läuft ein Gerichtsthriller mit Denzel Washington, der ebenfalls froh über etwas ist, jedenfalls lächelt er.
In meiner Vorstellung sind in der Bäckerei immer diese drei Frauen. Sie haben oft andere Gesichter, aber ihre Geschichte bleibt gleich. Was diese Bäckerei, in der jedermann froh ist, so unsäglich traurig macht, ist das völlige Fehlen einer Perspektive. Und wie sich die Frauen darein schicken. Alles steht hier still.
Gedanklich bezahle ich meinen Coffee-to-go, stürme hinaus und lasse meine Betrübnis im Laden, wo sie sich verkrümelt und nicht weiter auffällt. Draußen bin auch ich umgehend wieder froh.

Monday, October 18, 2010

#200, Zusammenhangshypothese

Ich mag die Idee der Repräsentativität, weil sie in jedem Fall viel Arbeit spart: In der Repräsentativen Demokratie entscheiden ein paar Parlamentarier stellvertretend für das Volk. In der repräsentativen Umfrage bekommt man heraus, wie ein kleiner Teil denkt und zieht daraus Rückschlüsse auf die Gesamtheit.
Das Repräsentative ist auch uneingeschränkt nutzbar im Alltag: Treffe ich fünf dumme Blondinen, schließe ich daraus, dass die Anderen wohl auch nicht klüger sind und brauche das nicht einmal ein Vorurteil zu nennen.

Zwar war ich mir darüber nicht im Klaren, aber auch ich habe in den letzten Tagen hart geschuftet, um die Daten für eine Repräsentativerhebung zusammenzutragen. Ziel meiner Untersuchung war es, billigen Wohnraum in Berlin zu finden. Meine Erhebungsmethode war die Zufallsstichprobe. Mein Maßstab 90 qm.
Das überraschende Ergebnis: 90 qm kosten überall im betrachteten Versuchsrahmen (Neukölln, Kreuzberg, Mitte, Friedrichshain und Wedding) das Gleiche, nämlich warm um die 900 EUR. Ein nennenswerter Unterschied ließ sich nicht ausmachen. Mit einer Ausnahme: Bei gleichem Preis sehen die Wohnungen in Mitte deutlich besser aus.
Das Schöne daran: Wenn die Leute erst einmal mitbekommen, dass Neukölln nicht Mitte ist und es auch nie werden wird, ziehen sie zurück an den Hackeschen Markt: Es ist halt doch repräsentativer.

Sunday, October 17, 2010

#196, Dinge, die vor Büchern stehen (Achim)

Einmal sah ich mir die Bücher einer Frau an, während sie mir einen Kaffee kochte. Sie kam aus der Küche, den Kaffee in der Hand, und in ihrem Gesicht stand der Zorn. Ihre Bücher waren ihr heilig, und auch wenn mir die Titel alles andere als verdächtig erschienen, war ihr mein neugieriger Blick deutlich zu persönlich. Es blieb bei diesem Kaffee und dem bösen Blick, und auch die Neugier auf Bücher, die andere im Regal haben, ließ über die Jahre nach.

Interessanter finde ich die Dinge, die vor den Büchern stehen, Postkarten und Tierfiguren aus Ton oder Glas, schöne Streichholzbriefe aus dem Urlaub, Stifte, Gebasteltes aus Papier, Bilder der Kinder, Nichten oder Neffen, Schneekugeln, alles Dinge, die man behutsam beiseite nehmen muss, um an ein Buch zu kommen. Und manchmal, nach Jahren der Gewöhnung an Reliquien des nun schlummernden Bildungseifers, geraten Dinge des Alltags vor die Bücher, Flaschen, Stifte, Kerzen, sogar zwei Dosen Kartoffeleintopf habe ich neulich gesehen. Ich nahm eine der Dosen, las die Zutaten, staunte, und bekam Appetit. Vorsichtig stellte ich die Dose zurück, schob die Bücher etwas nach hinten, damit sie Platz hat und sicher steht und nicht aus Versehen zu Boden fällt.

Saturday, October 16, 2010

#158, Redefreiheit

Der Job, das Leben, die Stadt: Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen. Als sie die Tür öffnet, werde ich sofort hineingezogen in die curryschwangere Küche, dort ist es warm. Wir sprechen, die Teller vor uns.
Nebenan auf dem Herd blubbert noch bisweilen der große Topf mit dem Curry, genauso, wie wir in Abständen auflachen. Unser Gespräch hat kein Zentrum, immer wieder stößt eine mit dem Kochlöffel hinein und rührt es um. Es ist ein gutes Gefühl, diese völlige Freiheit in der Konversation, hier gibt es keine Bereiche, die man besser nicht anschneidet. Es hat nichts damit zu tun, über dies und das zu sprechen, stattdessen kommt alles als Thema in Frage, weil wir uns für dieselben Dinge interessieren, ohne miteinander zu konkurrieren. Wir sind uns wohlgesinnt.
Als ich mich verabschiede, ist es draußen noch heller Tag. Ich habe ein neues Rezept für Apfeltaschen und frage mich, wie ich es all die Monate ohne sie ausgehalten habe.

Friday, October 15, 2010

#198, Der heilige Strohsack

Statt eine Freundin zu besuchen und mit ihr viel Bier zu trinken, wie ich es seit Tagen vorhatte, finde ich mich mit Tee und mehreren Orangen auf meinem Sofa wieder. Ich schalte den Fernseher ein, heute habe ich wirklich keine bessere Idee, und entdecke etwas, das nichts mit den nordamerikanischen Polizeiserien zu tun hat, denen ich mit Resignation entgegen gesehen hatte. Ich finde: Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Meine Mutter am Telefon würge ich gnadenlos ab, jetzt habe ich Indy.
Seitdem ich aus Venedig zurück bin, habe ich den Film nicht mehr gesehen, und bin plötzlich in der Lage, die Drehorte in der Stadt zu lokalisieren. Seltsamerweise nimmt das dem Film nichts von seiner Illusion, im Gegenteil. Wenn Indy auf dem Landesteg vor Ca’ d’Oro steht, sehe ich nicht das Set und die Absperrungen. Ich weiß, diese Orte existieren wirklich, und dadurch wird mir auch Indy realer.
Sogar nach dem Filmende amüsiere ich mich weiter, denn jetzt kommt das Gewinnspiel. Ich stelle mir vor, ich würde dort anrufen, um seelenruhig meine Chance auf den sensationellen Flachbildschirm in den Wind zu schlagen, indem ich sage: Die richtige Antwort ist natürlich b, Indiana Jones sucht nach dem heiligen Strohsack.

Thursday, October 14, 2010

#200, Die Schönheit einer Landschaft in Veilchenblau (Achim)

Über die Jahre und die Flirts habe ich einen Grundsatz aus den Augen verloren, der mir einst heilig war: Sage nie die drei entscheidenden Worte vor dem ersten Kuss. Heute nun sind sie mir nach Jahren doch wieder entwischt, und die Quittung folgte sogleich.

Noch am Morgen sah ich aus dem Fenster und ließ mir die Farben der Landschaft gefallen. Der Zug fuhr durch das Elbsandsteingebirge, vorbei an Postkartenmotiven und Urlaubern in Wanderlaune, und die bunten Farben des herbstlichen Laubs hoben meine Laune. Ich liebe es, von der Stimmung und den Farben einer Landschaft erfasst zu werden, und mit Mut und frohem Herzen ließ ich die Gegend passieren.

Und nun, am Nachmittag, auf der Rückfahrt, haben die Wälder, Felsen und Kleider der Wanderer andere Farben. Der Wind scheint sich gelegt zu haben, und die einsetzende Dunkelheit legt sich auf die Farben des Laubs. Die Wanderer auf den Bahnsteigen scheinen nun müde Beide zu haben. Sie bewegen sich langsam und sprechen verhalten. Ich fahre wie durch die Schattenseite meines Wagemuts, und die Landschaft zeigt mir die Farben des Rückschlags und der aufkommenden Melancholie und ihrer heimlichen Süße, die sich mit den Schmerzen einer gepfefferten Backpfeife mischen, ein langsam dunkler werdendes Veilchenblau.

Wednesday, October 13, 2010

#197, Genius loci

Heute bin ich mal wieder durch mein Viertel gelaufen, von vorne nach hinten. Vorne sieht es schon aus wie das, wozu sich Berlin allerorten zu entwickeln scheint, fast so als handele es sich dabei um ein Naturgesetz, dem die Stadt sich allzu lange widersetzen musste, um jetzt seufzend nachzugeben: Da ist der Bio-Supermarkt, die kleinen Geschäfte der unabhängigen Fashion-Artists, da sind Kneipen, Spelunken und Bars, und seit kurzem auch ein gut sortierter Buchladen.
Je weiter ich die Weserstraße hinuntergehe, desto häufiger sieht man abgeranzte Second-Hand-Möbelläden, desto öfter finden sich ausgeschlachtete Fernsehgehäuse unter den Bäumen, desto weniger alternativ gekleidete Muttis schieben ihre Kinderwägen. Gruppen marodierender kleiner Jungs schieben sich stattdessen, einander die Ellbogen in die Seiten stoßend, auf dem Sportplatz herum.
Schon fast zu Hause, fahren zwei Typen in Perücken an mir vorbei, die langen blonden Plastikhaare fliegen im Wind. Beide tragen Frauenkleidung mit mokanten Strümpfen und sind stark geschminkt. Der Hintere stimmt ein Lied an, Niemals will ich von dir gehen...
Ich lächele, als die Beiden vorbeikommen, schon sind sie weg, doch das Lächeln bleibt noch ein wenig, und ein ebensolches Lächeln finde ich auch im Blick des älteren Arabers, der mir jetzt entgegenkommt, ganz ohne Häme.

Tuesday, October 12, 2010

#198, Ohayou!

Von Japanisch habe ich keine Ahnung. Ich weiß nur, dass die Sprache dazu führt, dass Japaner, die gerade Deutsch lernen, mit unvoreingenommener Freude Dinge sagen wie: Er gehto jetzo.
A., die gerade einen Anfängerkurs besucht, spricht meistens Deutsch mit mir; zumindest glaube ich das. Es könnte aber auch Englisch sein. Im Vergleich zu ausländischen Europäern, die zumindest über das gleiche Zeichensystem verfügen, Internationalismen verstehen und manchmal sogar Englisch sprechen, tut sich A. schon außergewöhnlich schwer. Für sie ist alles seltsam, nicht einmal ich oder du kann sie sagen, ohne zu glauben, damit den Gesprächspartner in höchstem Maße zu beleidigen.
Heute haben wir auf dem Gang die Modalverben geübt. Müssen ging ganz gut, dürfen dagegen war eine Katastrophe: Ihr dürft. Zwischen Kichern und Kichern versuchte A. es immer wieder aufs Neue, spürte mit einer umwerfenden Ernsthaftigkeit der Konsonanten-Gruppe nach, zog die Stirn kraus, wenn die Reihenfolge durcheinander kam, kicherte und setzte wieder an.
Ich stand neben ihr, ließ r-f-t über den Gaumen perlen, als wäre es das erste Mal und schmeckte den Lauten nach, dieser Bewegung von hinten nach vorne, bis mir der Hauch, den die Zungenspitze beim t zwischen die geöffneten Zahnreihen schickt, endlich wie eine Liebkosung erschien.

Monday, October 11, 2010

#195, Die Schönheit unscheinbarer Frauen (Achim)

Oft schon traf ich Frauen, die sich in ihrer Schönheit sicher gaben und erobert werden wollten, und ich liebe diese Spiele, die trotz fester Regeln nie langweilig werden. Ich sehe eine Frau, die mich schon längst bemerkt hat, sie blickt zur Seite, spricht mit einem anderen, lässt mir Gelegenheit, ihr nachzusehen, sie zu beobachten, dabei näher zu kommen, ohne in Verlegenheit zu geraten, und im entscheidenden Moment, bei der ersten zufälligen Berührung, sieht sie mir offen und einladend ins Gesicht.

Ich mag dieses Spiel, doch noch viel mehr liebe ich Frauen, die unscheinbar sind, die Angst vor Eroberungen haben und ihren ganzen Wagemut in die Bereitschaft legen, in ihrer Schönheit entdeckt zu werden. „Ich werde bestimmt etwas Verdächtiges ausstrahlen“ lud mich eine mal ein, und ich bewunderte ihren Mut. Ich liebe den Moment, in dem sich ihre Schönheit zeigt und ihr Wesen sich wandelt, mir zugewandt gibt, und mich einlädt, mehr zu entdecken. Mir wird warm, ich wäge meine Unruhe und meine Vorsicht, befürchte, zu schnell sein zu wollen, und so scheu wie sie sich mir gibt, blicke nun ich zur Seite. Und bei der ersten zufälligen Berührung liegt das Spiel ganz in ihrer Hand.

Sunday, October 10, 2010

#168, Held der Kindheit

Vielleicht, weil plötzlich alle um mich herum Kinder bekommen. Vielleicht, weil der Herbst mich sentimental macht.
Jedenfalls muss ich seit einigen Tagen immer an Frederick denken, diese Buntpapier-Maus, die meine Mutter mir nur zögerlich als Held der Kindheit vorstellen wollte, und die man heute vermutlich direkt als Sozial-Schmarotzer bezeichnen würde.
Frederick also lässt seine Kumpels im Herbst all die Nüsse und Leckereien einsammeln, während er selbst auf der faulen Haut liegt. Im Winter dann frisst er den Anderen ihr Zeug weg, bis endlich seine große Stunde kommt und er die versammelte Mäuseschaft vor dem Erfrieren rettet, indem er von der Sonne erzählt.
Und wenn ich an Nachmittagen wie diesem an den einschlägigen Plätzen sitze, vor der Ankerklause oder auf der Admiralsbrücke, mit dem Gesicht immer in der Herbstsonne, dann sage ich: Warte, lass mich noch eine Zigarette rauchen. In ein paar Monaten werde ich dir davon erzählen, worüber wir lachten, wie sich die Sonne auf der Haut anfühlte, welche Nuance das Gelb der Blätter an den Bäumen hatte.

Saturday, October 9, 2010

#16, nachts im Bett

Der Gedanke, den man eigentlich noch zu Ende denken wollte, aber dann - schläft - man - schon - ein.

Friday, October 8, 2010

#200, Mit Johannes am Grab von Uwe Greßmann (Achim)

Vor Jahren las ich ein Gedicht, einen Namen, und war verliebt. Ich fragte nach: Nur einen Lyrikband hat er zu Lebzeiten veröffentlicht, und über einem zweiten ist er gestorben, in jungen Jahren. 40 Jahre ist er schon tot. Ich kenne jemanden, der ihn kannte, und der verriet mir, wo sein Grab ist. Als er mir den Weg beschrieb, da staunte ich, denn diesen Friedhof hat Johannes im Blick, Tag für Tag, wenn er aus dem Fenster sieht. Auch ich habe schon oft aus seinem Fenster gesehen, während er still hinter mir am Schreibtisch saß, Wein trank, rauchte, vor sich die Lilie in der Wasserkaraffe und die trockenen Blätter im Glas. Heute haben wir sein Grab besucht. Ich bücke mich zum kleinen Grabstein, lese die Daten, sehe den Strauß, den jemand vor Wochen an den Stein gelehnt hat. Johannes erzählt, er habe lange suchen müssen, um das Grab zu finden, denn einer dieser einst kleinen Nadelbäume ist über die Jahre riesig groß geworden, und nur weil jemand einen der Äste weggeschnitten hat, ist der Grabstein nun leicht zu sehen. Ich sehe den Stumpf des Astes, hebe den Blick, und erst mit dem Kopf ganz im Nacken sehe ich seine Spitze.

Thursday, October 7, 2010

#192, und er lacht

Konsterniert blickt er mich an, als ich ihm gestehe, Frankenstein Junior noch nie gesehen zu haben. Er schüttelt den Kopf, das kann er so nicht stehen lassen, das darf nicht sein, ein Meisterwerk, murmelt er und sucht schon auf youtube.
Er lacht bereits, da laufen die Ausschnitte noch gar nicht, aber er lacht, sozusagen in Vorfreude, er lacht sich hinein in den Film, den er mir in Stückchen zeigt, und die Stückchen scheinen mir auch witzig. Ich verlange mehr von den Filmhappen, mein Appetit ist geweckt, mehr Stückchen, mehr Häppchen, wir wechseln zu Spaceballs und Das Leben des Brian, und wenn ich immer mehr verlange, so liegt das sicher nicht daran, dass ich gerne Komödien in Ausschnitten sehe. Sein Lachen ist es, ein Lachen, das nicht vielen Menschen eigen ist, ein volles, schweres, entspanntes Lachen wie nach einem guten Essen, und so legt es sich in mich hinein, am Ende bin auch ich zufrieden und satt.
Für den nächsten Tag werde ich mir Witze ausdenken müssen, oder wir lesen einen Comic, was ist eigentlich mit Buster Keaton?, irgendetwas wird mir hoffentlich einfallen, um ihn dazu zu bringen, mir wieder so schön vorzulachen.

Wednesday, October 6, 2010

#171, Reisegefährten

Vor mir sitzt ein recht ruhiger Graf Dracula. Daneben ein Vampirmädchen, eher Twilight als Bram Stoker, und von ihrem Sitznachbarn will sie sowieso nichts wissen. Sie genießt stattdessen die fünf Minuten Aufmerksamkeit, die ihr das Einsetzen des viel zu großen Vampirgebisses einbringt. Das Gebiss verleiht ihr eher das Aussehen einer Zombie-Bulldogge, die Hexe und die Prinzessin auf dem Sitz nebenan gruseln sich trotzdem. Es ist eine fröhliche Art, sich zu gruseln, begleitet von Anstupsen und Kichern, so, wie sie sich auch über einen toten Vogel gebeugt hätten.
Die Kinder sprechen Deutsch miteinander, auf einem recht guten Niveau, obwohl es für die wenigsten von ihnen die Muttersprache sein dürfte. Was sie außerem verbindet, ist die fiebrige Aufregung, unterwegs zu sein.
Auch ich bin unterwegs, im Gegensatz zu den Kindern aber kenne ich bereits mein Ziel. Und trotzdem lasse ich mich anstecken von ihrer Munterkeit und ihren großen Augen, ganz so, als stünde die Welt noch offen, als wären noch alle Entscheidungen denkbar und hinter jeder geschlossenen Türe noch ein Geheimnis zu entdecken.

Tuesday, October 5, 2010

#139, Fundstück IV: Bessere Beispiele hätte ich auch nicht finden können

Mark Aurel: Selbstbetrachtungen

Ferner ist noch zu beachten, dass es selbst in den Ereignissen, die sich in den Erzeugnissen der Natur finden, etwas Reizendes und Anziehendes gibt.
So z.B. bekommt manchmal das Brot beim Backen Spalten, und diese Zwischenräume, welche nicht in der Absicht des Bäckers lagen, haben doch eine gewisse Annehmlichkeit, eine besondere Anziehungskraft für den Appetit.
So brechen auch die Feigen bei ihrer Reife auf; bei den Oliven fügt selbst die Annäherung der Fäulnis noch der Frucht etwas besonders Liebliches hinzu.
Die zur Erde geneigten Ähren, die Augenbrauen des Löwen, der Schaum an der Schnauze des wilden Schweins und so viele andere Dinge haben an und für sich betrachtet nichts Schönes und doch tragen sie zu ihrem Schmucke bei und machen uns Vergnügen, weil sie Zubehör ihres eigenen Wesens sind.

(in der Übersetzung von Albert Wittstock, 1879)

Monday, October 4, 2010

#47, an den Haaren herbeiziehen

Hm... auch dieses Jahr wird aus mir nicht der gefeierte Literatur-Shooting-Star werden.
Sondern: Jemand anderes wird der gefeierte Literatur-Shooting-Star werden. Gerade eben habe ich es erfahren.
Was mir dazu jetzt Positives einfällt?
Vielleicht - dass meine Geschenke eingepackt sind, dass mein Geschirr gespült ist, dass das Leben weitergeht.

Sunday, October 3, 2010

#19, unterwegs sein

Zwischen Kaffee, Sonne, Spazierengehen, Reden und Kino habe ich doch glatt die Gelegenheit verpasst, noch einmal zu Hause vorbeizusehen.

Saturday, October 2, 2010

#175, Die Melancholie der Kreuzspinne

Meine dicke Freundin, die Kreuzspinne, die lange auf dem Balkon zwischen Basilikum und Rosmarin gelebt hat, ist weg. Schon seit Wochen habe ich keins ihrer Netze mehr gesehen, ich war besorgt. Andererseits verbrachte ich auch nicht mehr viel Zeit auf dem Balkon.
Im Sommer dagegen habe ich ihr einmal mehrere Stunden dabei zugesehen, wie sie sich von einem Kavalier den Hof machen ließ. Sie saß entspannt in der Mitte und kratzte sich manchmal zwischen den Augen, während er nervös einmal hierhin, einmal dorthin raste und mit den Saiten des Netzes klimperte.
Seine Nervosität, die das bei solchen Gelegenheiten übliche Maß überschritt, zeigte sich als berechtigt. Er beendete seine Werbung um die Dame des Netzes als gut verschnürtes Paket am rechten unteren Außenkreis.
Ihre wohlgezwirbelten Netze gerieten fortan ein bisschen unregelmäßig an dieser Stelle.
Heute habe ich sie wiedergefunden: Sie ist auf die Vorderseite des Hauses umgezogen. Jetzt wohnt sie in einer Ecke der Haustür, ich nehme an, des Windes wegen. Und noch immer gedenkt sie ihres Freiers mit einem kleinen Loch im rechten unteren Außenkreis.

Friday, October 1, 2010

#55, Schlafmangel

Heute Morgen trat ich auf die Chaussee hinaus, der Atem stand mir vor dem Mund, es war kühl.
Die breite Straße führte mehrere Kilometer nach Osten, und dort, an ihrem Ursprung, stand die Morgensonne über den Häusern. Mit ihrem bläulichen, kalten Licht flutete sie die Chaussee wie einen Kanal, das Licht traf mich mit Wucht.