Wednesday, June 30, 2010

#200, Freund und Helfer

Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zur Polizei, dessen Ursprung ich von offizieller Seite aus nicht nachvollziehen kann, das sich meinerseits aber unzweifelhaft auf verschiedene bizarre Anzeigen zurückführen lässt: Ich werde ständig bestraft für Dinge wie unabgeschlossene Autotüren und regelgerecht entsorgte Pizzakartons.
In Berlin kommen auf einen Polizisten 124 Einwohner. Am Samstagabend, als ich auf dem Rad den Landwehrkanal entlangfuhr, begegnete ich gleich zwei von ihnen. Wie immer, wenn mich ein Polizeiauto überholt, ging ich panisch die Checkliste durch:
War ich betrunken? Nein.
Irgendwie auffällig? Nein.
Fuhr ich auf dem Gehweg? Nein.
Telefonierte ich? Nein.
War mein Rad verkehrstauglich? Ja. Sogar das Licht war an.
Dass mich die beiden besorgten Beamten trotzdem zum Anhalten nötigten, hat mich dann nicht allzusehr überrascht. Und obwohl ich weder betrunken, noch auffällig war etc, hatte ich mich trotzdem eines Vergehens schuldig gemacht.
Ja, erklärte der Beamte, mit dem ich meine Checkliste durchging, Ihr Licht funktioniert.
Aber – (Pause) – es ist zu schwach.
Gerade wollte ich den beiden Beamten auseinandersetzen, dass sie wegen mir gerade die amtliche Hilfeleistung anderen 247 schutzbedürftigen Berliner Einwohnern gegenüber vernachlässigten, als ich mich eines Besseren besann (auch haarscharf an der Beamtenbeleidigung war ich bereits mehrmals entlanggeschrammt).
Am Ende ließ man mich laufen.

Tuesday, June 29, 2010

#199, Stierkampf

Ich sitze auf einer Bank oben auf den rotbraunen Klippen, unter mir liegt die sandige Badebucht. In den angrenzenden noch nicht gerodeten Olivenhainen sind Schüsse zu hören. „Das ist der Auftakt zu den Festlichkeiten zu Ehren des heiligen St Joan“ erklärte mir ein Katalane im Fischladen. Auch Stierkämpfe wird es wieder geben, wie all die Jahre zuvor auch. Viele der Fremden wissen nichts von den Eigenheiten dieser Feste. Sie halten Abstand zur einheimischen Bevölkerung, bis die unruhigen Tage vorbei sind.

Zumeist gewinnen die Stierkämpfer. „Aber manchmal auch der Stier“ beruhigt er mich. Die jungen Burschen im Ort wollen sich an ihm messen und ihre Stärke beweisen. Manchmal büxt ein Stier aus, und die Jagd gerät in den Olivenhain, manchmal sogar an die Küste, bis in das Meer hinein. Sogar bis an den Badestrand ist schon mal ein Stier geflohen, über das Geröll und um die ins Meer gestürzten Brocken der Klippen herum, oben die Villen, und als er wieder an Land kam, gab es einen Aufruhr am Strand. Die Leute griffen nach ihren Badetüchern und flüchteten zur einzigen steilen Treppe die Klippen hinauf. „Das haben wir hier alles schon gehabt“ erklärte er, nur, damit ich mir keine Sorgen mache.

Monday, June 28, 2010

#26, Stille Befriedigung über die Tatsache

Nicht zu den über 87 Prozent aller Deutschen gehört zu haben, die gestern beim Spiel Deutschland-England vor dem Fernseher saßen. Sondern etwas Besseres vorgehabt zu haben.

Sunday, June 27, 2010

#26, Haiku in Prosa

Eine Wand aus weißen Rosen, wilden.
Ihr Duft am Abend ist sanft.
Vor den Rosen: ein Tisch, darauf ein Korb mit Weißbrot.
Zwei Blütenblätter fallen ab.

Saturday, June 26, 2010

#196, Cyberspace

Vor gut zwanzig Jahren besuchte ich mit anderen Jugendlichen ein Forschungszentrum, um die damals angesagte künstliche Intelligenz kennenzulernen. In einer Abteilung konnte man sich eine spezielle Brille aufsetzen und durch künstliche dreidimensionale Bürokomplexe wandern.
Vor einigen Jahren kamen Bagger und Arbeiter und bauten Häuser dieser Art gleich hier im Olivenhain. Ein Komplex aus Reihenhäusern, Parkplätzen, Pools, Grünflächen, Bänken, Zäunen, Straßenlaternen, Palmen und Pollern entstand. Ein großflächiges Schild mit einem Luftbild wurde an der Zufahrtstrasse zum Ort errichtet. Die Häuser dienen als Investition, heißt es. Ein Fachmann erklärte, dass ihr Wert schneller steigt als die Zinsen das Geld mehren können – manchmal übersteigt der Wertzuwachs sogar den Zins für aufgenommene Kredite. Wer reich werden wollte, lieh sich Geld und kaufte ein Haus.
Jetzt stehen die Häuser da, alle unbewohnt. Die Siedlung gleicht einer Geisterstadt, frisch aus dem Cyberspace. Damals vor zwanzig Jahren durfte nicht jeder die Brille aufsetzen, dazu reichte die Zeit nicht. Der Büroleiter vertröstete mich und ermunterte die Gruppe, Informatik zu studieren. Jetzt, nach zwanzig Jahren, kann ich durch die Siedlung laufen, auf einer Bank sitzen, mich sonnen und die Zeitung lesen – so wie ich will. Ich bin stolz darauf, es so weit gebracht zu haben.

Friday, June 25, 2010

#170, Personen, Bildchen

Heute war ich auf einem Nachmittagsempfang mit lauter Leuten, die fast 10 Jahre jünger waren als ich. Alle hatten sie weiße Zähne, alle waren polite und ich war die einzige Raucherin, schließlich weiß man, dass Rauchen die Haut vorzeitig altern lässt.
Niemand hat über Politik geredet, es geht ja allen ausgesprochen gut, man ist durchaus mit sich selbst beschäftigt und hat damit auch genug zu tun.
Meine Freunde dagegen: Das geniale Arschloch R. mit seinen psychotischen Momenten. Oder L., die ihre riesigen Bilder zu Patti Smith auf dem Parkettfußboden gemalt hat. M., mit der ich bei mir zu Hause Akte von denselben Typen gemalt habe, wenn wir nicht damit beschäftigt waren, uns zu betrinken. H., die sich mit kochendem Teewasser zu verteidigen wusste. S., der schönste Mann Deutschlands, der vor allem unter Terminschwierigkeiten leidet. Und die Anderen, jeder für sich eine bizarre Schönheit.
Wir alle werden bürgerlich, das ist wahr. Aber immerhin, immerhin: Jeder hat seinen eigenen Kopf. Und niemand von ihnen war jemals ein erfolgreiches H&M-Abziehbildchen.

Thursday, June 24, 2010

#29, Frohsinn

Ich stehe barfuß in der Küche und bereite uns einen Melonenshake vor. Ich versaue so ziemlich jede horizontale Fläche und singe dazu einige Takte Blitzkrieg Bob von den Ramones.

Wednesday, June 23, 2010

#197, Schwarz Rot Gold, nie gewollt

Die Deutschland-WM habe ich verpasst, 2006 lebte ich noch im Ausland. Wenn die Leute mir Unglaubliches aus diesem Sommer erzählen, muss ich es glauben. Auch so sind die Unterschiede augenscheinlich. Als ich zurückkam, galt die Deutschlandfahne auf Balkon oder Auto plötzlich nicht mehr als Fauxpas. Auch zwei davon gehen in Ordnung.
Die Deutschland-WM habe ich verpasst, ich bin immer noch weit davon entfernt, ein „entspannter Patriot“ zu sein, wie die Feuilletons nicht müde werden, uns seither zu betiteln: Ein Haus, in Deutschlandfahnen gewickelt, erfüllt mich noch immer mit  Unbehagen.
Der Grund dafür muss nicht unbedingt mit Dummheit und Gröhlerei zu tun haben, er kann auch einfach ästhetischen Ursprungs sein:
Die deutsche Fahne ist nämlich stinkhässlich.
Meine feinsinnige Freundin M. gibt mir Recht: Stell dir vor, wir hätten eine fröhliche Flagge, sagt sie. Am Telefon entwickeln wir den Plan, die Heimat zu verschönern. Es ginge ganz einfach.
Anstatt Vaterland-Blut-Glorie, anstatt der dicken Streifen, Ordnungssinn-Beständigkeit, wollte ich eine Flagge, deren Muster hüpft, wenn der Wind hineinfährt. Sich mit dem Auge kaum fassen lässt. Eine Fahne, die Frohsinn vermittelt und Mut und meinetwegen auch Feuerwerk. Die würde ich auch selbst auf den Reichstag stecken, in den hohen Himmel über Berlin.



Tuesday, June 22, 2010

#184, Nachspülen

Einen Geschirrspüler, erkläre ich gerne nachsichtig meinen um meine Freizeit besorgten Freunden, brauche ich nun wirklich nicht. Womit ich Recht habe, denn ich besitze nur fünf Teller, und um den Gebrauch eines Geschirrspülers zu rechtfertigen, müsste ich mir erst noch ein mindestens zwanzigteiliges Service zulegen. Was ich für einen Einpersonenhaushalt schlicht übertrieben finde.
Trotzdem freut sich mein bürgerliches Herz immer wieder, wenn ich bei Freunden eingeladen bin, die einen Geschirrspüler besitzen – wenigstens muss ich mir da keine Gedanken um ihren Abwasch machen.
Was die Freunde mit ihrem Geschirrspüler dagegen verpassen, sind die zehn Minuten am Tag nach dem Abendessen. Während wir die Vorspeise essen, macht L. einen Witz, über den ich am Spülbecken noch einmal grinsen muss. Während ich die Kartoffeln auflege, diskutieren wir darüber, ob ein selbstbestimmtes Leben möglich ist, ich sage nein, und am nächsten Tag fällt mir über den schmutzigen Tellern auch endlich das schlagende Argument für meinen Standpunkt ein. Die Weingläser nehmen wir mit ins Wohnzimmer, und während ich sie zusammensuche, stecke ich mir die letzte übriggebliebene Kirsche in den Mund und schmecke die Süße des Abends, gestern und heute. 

Monday, June 21, 2010

#197, Die Spatzen fressen die Mäusegerste

Früher hat sie das alles mal gelernt, erzählt sie, um es den Kindern beizubringen, aber über die Jahre wurde das Wissen aus den Lehrplänen gestrichen. „Das steht jetzt alles im Internet“ hat man ihr gesagt – das war vor 10 Jahren. Am Zaun wachsen Geranien, groß wie Buchsbäume. „Hier das hier, das ist Mäusegerste“, erklärt sie, „die Spatzen kommen und fressen die Körner“. Und das hier ist falscher Pfeffer – er sieht aus wie echter Pfeffer, nur ist er ungenießbar. Dafür ist die Pflanze schöner. Häufig ist es so, dass Pflanzen, die nur im Namen einen Nutzen erwarten lassen, eine besondere Schönheit zeigen. Die Natur ist wunderbar, deswegen haben die Könige Gärten um ihre Schlösser. Ich berühre einen Busch, dessen Blätter mir bekannt vorkommen und erwarte eine Reaktion. Die Blätter schlossen sich nicht. Mimosen, erinnerte ich mich und wunderte mich. Drei Sorten zeigte sie mir, alles Mimosen, die in Wahrheit Akazien sind und nur Mimosen genannt werden. Nur die echte Mimose ist empfindlich. Man muss die Pflanzen gezeigt bekommen und gesehen haben, um sie zu erkennen, sagt sie, sonst nützt alles Wissen nichts. Die Mäusegerste wächst noch, doch die Spatzen sind schon da, gleich im Nachbarbusch und warten vergnügt. 

Sunday, June 20, 2010

#193, Spaziergänger

Die Nachbarn in den Villen lieben kleine giftige Hunde, Kläffer, die nach Herzenslust ihr Revier verteidigen und ihren Halter beschützen. Ein Profi erklärte mir: „Je feiger der Halter, desto lauter ist der Hund“ – davon scheint hier niemand etwas wissen zu wollen. Die Halter kümmern sich nicht um das Gekläff ihrer Hunde – sie schieben ihren Bauch gelassen durch den Garten und schauen bedächtig auf die hässlichen Plastiklatschen, die klatschend auf den gefliesten Wegen zwischen Pool und Palmen den Ton angeben. Ein Spaziergänger, der den Blick abwendet, ist für den Hund ein Zeichen zum Angriff. Längst weiß ich, in welcher Villa welcher Hund wohnt, und wie dicht man dem Zaun kommen darf, um noch ignoriert zu werden. Wenn ich am späten Nachmittag, im Abklang der Hitze, auf der Terrasse sitze und den letzten Kaffee des Tages trinke, verfolge ich das Gebell in der Nachbarschaft. Im Geiste verfolge ich die Route des Spaziergängers. Ich höre den Hund links an der Ecke, zähle bis 50 und höre den Hund vom Haus mit Pool und der einen braunen Palme. Selten habe ich mich so sicher gefühlt wie hier, denn dank meiner Nachbarn weiß ich immer, was grade passiert. 

Saturday, June 19, 2010

#194, Wind und Meer

Einmal, später, möchte ich mit meinem Kind am Strand stehen und seufzen. Noch fehlt das Kind, der Strand ist schon da. Ich vermeide es, zu lange dort zu stehen und im Rauschen der Brandung meine Unruhe und Ungeduld zu verwirren.
Hinter mir liegen die Pärchen, auf dem Bauch und auf dem Rücken. Ein paar Männer werfen Bälle und allerlei anderes Spielzeug über ihre Körper. Manchmal treffen sie jemanden. Der Getroffene hebt den Kopf, sieht sich um und dreht sich vom Rücken auf den Bauch. Vor mir stehen die Alten, die Knie knapp im Wasser, unterhalten sich, blinzeln je nach Stand der Sonne, und genießen den kühlen Wind, den das Meer an Land und immer nur dorthin trägt – ganz gleich wie die hohen Wolken ziehen.
Ich achte auf meine Füße, denn der Saum der Brandung ist in Bewegung. Die eine Welle kommt weit und schießt im letzte Moment bis an die Zehen heran, die nächste bleibt wider Erwarten zögerlich oder verkrümelt sich im Schaum ihres zurückfließenden Vorgängers. Ich fühle mich beobachtet, ein scheuer Mann am Meer macht misstrauisch. Ich drehe mich um, und den Wind jetzt im Rücken entschließe ich mich, morgen wieder zu kommen.

Friday, June 18, 2010

#200, WM-Zehen


Um es kurz zu machen: Fußball ist mir gleichgültig. Was mir dagegen nicht gleichgültig ist, ist die Fußballwette, die ich mit meinem Bruder laufen habe, schließlich habe ich fünf Euro gesetzt.
Das Spiel heute, Deutschland-Serbien, konnte ich nicht sehen, weil ich noch arbeitete. Gehört allerdings habe ich es, oder zumindest hörte ich das Publikum im Straßencafé unten dreimal laut werden. Einer der Schreie ließ sich eindeutig als Laut der Enttäuschung identifizieren, ein Tor für Serbien. Die beiden anderen blieben unklassifizierbar, ich wusste nicht, wie man in Mitte ein deutsches Tor feiert. In Neukölln hätte ich das Ergebnis zweifelsfrei erhören können, aber vielleicht, dachte ich, jubelt man in Mitte verhaltener.
Nach Feierabend hätte ich fragen können, etwa einen der drei Jungs, die mit Deutschlandshirts und undurchschaubaren Gesichtern auf die Metro warteten. Aber ich wollte das Ergebnis erraten, erlauschen, erschließen, auch ich habe sportlichen Ehrgeiz.
Also musste ich warten, bis die Frau mit den schwarz-rot-gold-lackierten Zehennägeln ans Telefon ging. Noch während sie die Frage ihres Gesprächspartners „Das Spiel?“ wiederholte, gaben mir ihre Zehen, die sich ein ganz klein wenig verkrampften, die Antwort.
Und da war ich plötzlich stolz, irgendwie, auf diese drei Jungs vom Bahnsteig, die eine Niederlage mit Haltung ertragen konnten.

Thursday, June 17, 2010

#65, Wachsen!

Am Görlitzer Park entlang, auch an der Holzmarktstraße, da ist der Fahrradweg aufgeworfen von den Wurzeln der Bäume, die von unten kleine, langgezogene Dünen in den Asphalt drücken.
Das erinnert an die Adern auf den Händen der Alten, sagte ich einmal, aber das Bild ist falsch, denn tatsächlich geht es hier um Vitalität, um Kraft und um den ungebremsten Willen, einfach immer weiter zu wachsen.

Wednesday, June 16, 2010

#180, Voll sein

Der menschliche Körper ist Fleisch, Blut, Knochen, ist organisch und ein Wunderwerk.
Ich weiß das. Ich schätze und achte ihn, meinen Körper, manchmal staune ich auch über ihn.

Natürlich, die Schmerzen. Etwas funktioniert nicht, wie es soll. Die Haare fallen aus.
Und dann, über das Körperliche hinaus, wenn er hohl klingt.
Wenn der Körper aufhört, Fleisch, Blut, Knochen, organisch und ein Wunderwerk zu sein. Wenn es nachhallt in ihm und ich mein eigenes Echo höre. Alles hindurch fällt, was ich hineinstecke. Dann fürchte ich ihn.

Heute hingegen: Fülle. Das Gefühl, von innen heraus ein Ganzes zu sein, nicht schwer, sondern aus einem Stück. Auch dies abseits jeder Körperlichkeit, denn dieses Gefühl machte nicht halt an den Grenzen meines Körpers, schreckte nicht an der Hülle zurück, sondern erstreckte sich noch ein ganzes Stück darüber hinaus.
Ich stelle mir vor, auch eine Medusa kann nicht genau bestimmen, wo der eigene Körper schließt und das Element anstößt. So vielleicht.
Ich dagegen hatte ein Gespräch in der Sonne.

Der Zweifel: Vielleicht waren auch das am Ende nur die Hormone. Der Körper ist ein Wunderwerk.

Tuesday, June 15, 2010

#199, Spießer aus der Jugendzeit

Um das Fischerdorf herum sitzen die Villen in den Olivenhainen, einige entlang der Küste, einige im hügeligen Hinterland. In den Villen wohnen Schweizer, Deutsche und Engländer. Viele kamen nach Franco – und blieben, so wie sie waren.

In Argentinien soll es Dörfer geben, die über hundert Jahre alte regionale deutsche Gebräuche und Dialekte pflegen. Hier pflegen die Nachbarn die über zwanzig Jahre alten Sitten meiner Kindheit. Ich erkenne steife Tischmanieren, spaßige Komplimente an die Dame des Hauses, mit starker Hand begleitete Allgemeinplätze, Gesten zweifelhafter Hilfsbereitschaft und deftige Bekenntnisse zu deutschem Wein und Bier und zu deutscher Gemütlichkeit. Ich sehe ihre Blicke scharf wandern, wenn der Anstand, den sie noch leben, berührt wird.

Sie kennen die Treffpunkte der Gegend. Manchmal, wenn ein Fremder am Tisch sitzt, sprechen sie spanisch und sind stolz auf ein paar Brocken in zwanzig Jahren. Um sie herum wird längst katalanisch gesprochen. Man ist sich einig: das geht zu weit.

Im Schrank hier steht das ausgemusterte Geschirr, das den Frühstückstisch vor dem Schulbus zierte. Erstaunt greife ich wie gewohnt nach einer fast vergessenen Tasse. Tags drauf kaufe ich Milch, Kakao und Cornflakes. Die katalanische Kassiererin mustert mich, wiederholt den Betrag auf dem Display auf spanisch – ganz langsam.

Monday, June 14, 2010

#159, Gemütliches Babel

Das Schöne an Fremdsprachen: Man spricht eine Fremdsprache.
Das Dumme an Fremdsprachen: Man spricht eine Fremdsprache.

Sich verständlich zu machen, sich zu erklären mit anderen Worten, das ist ein Vergnügen, das spontan umschlagen kann in die Schererei, ungenügende Synonyme anführen zu müssen, weil die exakte Umschreibung fehlt.
Manchmal geschieht das von einem Satz zum nächsten, manchmal über Jahre hinweg.

Am Wochenende saß ich mit drei Leuten am Tisch, die untereinander schon lange befreundet sind.
Re, die aus Lateinamerika kommt, spricht Spanisch mit Ri, der Italiener ist. Er antwortet ihr deshalb auf Italienisch, für ihn ist es einfacher, und auch mit Lu, der ebenfalls Italiener ist, kommuniziert er in der Muttersprache. Lu hingegen spricht Spanisch mit Re, weil er sich daran gewöhnt hat.
Aus Zufall spreche ich beide Sprachen, sodass mir das Verstehen keine Schwierigkeiten bereitet. Aber selbst sprechen, das kann ich diesmal auf Deutsch, weil mich, was selten ist, auch alle Anderen problemlos verstehen.

Der Gipfel der multilingualen Behaglichkeit.

Sunday, June 13, 2010

#199, Der Herr der Hähne

Jeden Tag um vier kommt der alte Mann und füttert seine Hühnerschar. Früher sammelte er noch die Eier, die wild verstreut auf dem Grundstück lagen. Er kannte die Lieblingslegeplätze der Hühner. Mit den Jahren beschränkte er sich darauf, auf seinem Klappstuhl zu sitzen und zu wachen. Die Hühner wurden weniger, die Hähne immer mehr, und nun, nach über 30 Jahren Wache, hat er nur noch eine Hand voll Hühner. Der Rest sind Hähne, die krähen, was das Zeug hält.

Er sagt, die Hühner werden geklaut, die Hähne nicht. Sie sind zu zäh um gegessen zu werden, auch wenn man sie stundenlang kocht. Früher wurden auch die Eier geklaut – das ließ nach, als das Gerücht umging, er hätte einige Eier mit Sprengstoff präpariert. Seitdem hat er viel Nachwuchs in der Schar. Und noch viel früher, als junger Mann, kämpfte er im Bürgerkrieg, auf der richtigen Seite.

Die Hähne sind laut. Die reichen Villenbesitzer in der Nachbarschaft fluchen und hoffen, dass er bald zu alt ist, um sie zu versorgen. Immer wieder mal kam einer angeschlichen und wollte ein Angebot machen. Ich sitze auf der Terrasse nebenan und lausche den Verhandlungen. Ich bin stolz auf meinen Nachbarn. Dem Kerl kann keiner.

Saturday, June 12, 2010

#69, Glück und Gewicht

„Sie haben nichts zu verlieren außer Gewicht“ sagt die dürre Frau im Fernsehen. Und „Sie können glücklicher sein, wenn sie schlank sind!“
Ich habe nichts zu verlieren – das Gewicht, das ich habe, brauche ich noch. Allerdings will auch ich glücklicher sein. Ich überlege, zuzunehmen, um abnehmen zu können und gehe den Einkaufszettel für morgen durch. Die ersten vier Raten wären geschenkt, wenn ich noch heute bestelle.

Friday, June 11, 2010

#200, Berlin ist Noril'sk ist Barcelona ist Berlin

Diese Stadt hält einen zum Narren.
Zuerst gaukelt sie dir ungefähr 8 Monate lang vor, du wärst gar nicht in Mitteleuropa, gar nicht in gemäßigten Klimaregionen, sondern befändest dich stattdessen in der weiten sibirischen Steppe, in Noril'sk etwa, am idyllischen Flüsschen Enisej, wo die Höchsttemperatur auch am 12. Juni noch bei 7 Grad liegt.
Das gefällt dir nicht, schließlich weißt du ganz sicher, dass du dich nicht in Noril'sk, sondern in Berlin befindest, seit langem schon, und du pochst auf die gemäßigten Klimaregionen und auf den Standort Mitteleuropa.
Also gibt sie irgendwann nach, die Stadt. Sie macht Sommer. Dann loben alle die Stadt, streicheln sie und stellen Kerzen vor ihre Restaurants: So ist's brav.
Damit aber nicht genug. Berlin macht nicht einfach einen mitteleuropäischen Mäßigsommer. Sie hat sich stattdessen genau angesehen, wie die anderen Städte das machen: Und deshalb sind wir gestern noch um Mitternacht barfuß auf einem Spielplatz gesessen, mit einer Luftfeuchtigkeit, die ich kenne, zum Beispiel aus Venedig oder Barcelona. Eine Luftfeuchtigkeit, die man spürt auf Haut und Haaren.
Und wüsste man nicht ganz genau, dass man noch immer in Berlin sich befindet, man würde den Vorschlag machen: Komm, gehen wir zum Strand, wir wollen der Brandung zuhören.

Thursday, June 10, 2010

#190, Flugs nach China

Neben mir sitzt einer dieser Typen, die ihr Leben auf Flughäfen verbringen müssen. Er blickt in den Laptop und notiert Zahlen auf einem Zettel. Eine junge Frau, die dieses Schicksal bald mit ihm teilen könnte, setzt sich zwischen uns. Er telefoniert, erklärt Verspätungen, sagt einen Termin in Barcelona ab. Das Leadershipmeeting in China drückt auf den Zeitplan. Ich sehe nach dem Infoscreen, die Frau mit der sauberen Blues kramt in ihrem Businessgepäck.

Sein Englisch hatte einen charakterlosen internationalen Businessakzent, der weltweit verstanden wird und seine Herkunft verschleiert. Vielleicht ist er auf der Durchreise, vielleicht kommt er aus Bayern, aus Holland oder aus der Schweiz. Der Infoscreen wiederholt kitschig dick auftragende Kunstkurzfilme. Ich langweile mich, lasse den Blick schweifen. Die Frau findet einen Apfel, steht auf und wandert durch die Halle.

Der Flug wird aufgerufen. Mein Nachbar ignorierte die Schlange und stellte sich gleich neben den ersten – Augen zu, Kopf in die Luft. Keiner wunderte sich, er kennt das. Er verschwand aus dem Blick, bevor jemand seinem Ärger Luft machen kann. Im Flugzeug ist er nicht mehr zu finden. Ich habe Glück, der Fensterplatz neben mir bleibt frei.

Wednesday, June 9, 2010

#171, Frauen und Technik

Betriebssysteme haben die Eigenheit, sich fortzuentwickeln. Bestimmte Vorgänge waren bei Windows 95 möglich, bei 98 nicht mehr, bei der 2000er Version hat man sie unter anderem Namen wiedergefunden, bei XP nicht mehr gebraucht und spätestens mit Vista hat man sowieso alles vergessen, weil man ohnehin seit Jahren auf etwas ganz Anderes umgestiegen ist.
Ich laufe derzeit auf A. 5.0. Bestimmte Funktionen sind seit dem ersten Backup nicht mehr möglich, andere wurden derart hochspezialisiert, dass sie für den normalen User nicht mehr verständlich sind, viele sind einfach Firlefanz, den man für den täglichen Bedarf nicht braucht.
Fl. dagegen waren Neuinstallationen schon immer egal, solange etwas funktioniert, sieht er keinen Grund dazu, es gegen etwas Anderes einzutauschen. Er ist sozusagen ein eher konservativer Neuinstallierer, dafür aber ein fleißiger Backuper.
Wenn wir uns synchronisieren, merke ich, wie meine Kiste bei seiner uralten A.1.0-Version ein bisschen zicken will. Aber dank jahrelanger Übung bedient er die Schaltflächen souverän, und da entspannt sich mein Betriebssystem, schaltet ein paar Gänge zurück und meldet:
Okay, okay, ich hab’s gleich!

Tuesday, June 8, 2010

#8, Nach der Arbeit

Die stille Freude, wenn ein Satz gelungen ist.

Monday, June 7, 2010

#89, Glückliche Zellen

Ich habe Durst. Ich komme von der Straße und ich habe einen infernalischen Durst. Seit Stunden. Ich öffne die Tür, lasse im Gehen Tasche und Schlüssel fallen, ich gehe direkt zum Wasserhahn.
Das Glas Wasser setze ich an die Lippen, und während ich schlucke, spüre ich, wie jede einzelne vertrocknete Zelle in meinem Körper einen kleinen Hüpfer tut. Vor Freude.
Sie werfen die kleinen Ärmchen in die Luft, springen von einem Fuß auf den anderen, sie versammeln sich auf dem Dorfplatz und jubeln gemeinsam in den Himmel.

Sunday, June 6, 2010

#138, Sich freuen auf

Natürlich gibt es das Konzept der Vorfreude in allen Kulturen. Ein Wort dafür gibt es in den meisten dagegen nicht. Will ich es erklären, muss ich Diagramme zeichnen, in denen ich gewissenhaft das Heute eintrage und ein Ereignis in der Zukunft, dazu male ich Pfeile.
Seit kurzem benutze ich auch ein Gedicht aus dem 19. Jahrhundert zur Erläuterung, il sabato del villaggio von Giacomo Leopardi, in dem sich ein ganzes Dorf auf den arbeitsfreien Sonntag vorbereitet.
Heute ist Sonntag, und ich versuche still zu sein, weil die Freunde noch schlafen. Gestern waren wir lange aus, auch für heute haben wir Pläne. Keine organisierten Pläne, eher verschiedene Plan-Alternativen, die Entscheidung muss erst noch getroffen werden.
In der Küche duftet es nach Kaffee, draußen ist es nicht kalt und dann geht die Tür auf und die Freunde entdecken den Frühstückstisch.

Saturday, June 5, 2010

#150, Fundstück I: [Manuskriptseite 10], maschinenbeschriftet und gefunden in einem Buch aus der Stabi

"[...]
Ein langer Abendschatten fällt auf das Mädel hernieder, es blickt auf und vor ihm steht der Pfarrer von Wildalpen.
Der Pfarrer blickt Maria in die Augen, sieht, was für ein hübsches, junges, starkes Ding sie ist, fragt sie nach dem Woher und Wohin --- und bekommt eine Idee.
Er nimmt sie mit sich ins Haus.
„Man muss den Leuten das Gute möglichst leicht machen“, sagt der Pfarrer.
„Darum meine ich: Du bist die rechte Fahnenträgerin!“
Das ist eine feine Berechnung: Mit der jungen, hübschen Fahnenträgerin werden auch die störrischsten, jungen Buben an der Prozession teilnehmen, und nicht immer bloss die alten Weiber!
Maria ist entsetzt: „Ich bin nur ein einfältiges Mädel“ sagt sie „immer nur beim Vieh gewesen, immer am liebsten mit Kühen und Kälbern allein geblieben und weiss nicht, was sich schickt.
Und da soll ich jetzt vor allen Leuten dahergehen und die Fahne tragen?“ [...]"

Friday, June 4, 2010

#36, Nachhut

Schauplatz: Gethsemanekirche, Helmholzkiez, Prenzlauer Berg. Die Kinderwagen haben längst die Macht auf dem Gehweg übernommen.
Vor einem Kaffee kehrt eine junge Braut die Scherben des Polterabends zusammen.
Die Hochzeitsgäste sitzen neben ihren Digitalkameras, trinken Milchkaffee, schweigen.

Thursday, June 3, 2010

#189, African Rumba

Die Nachricht versprach gar nichts, und nur ungern vereinbarte ich den Termin.
Unten an der Haustür ein Aushang: „Wer nach 23 Uhr die Waschmaschine benutzt, stört die Nachruhe“. Die Treppen sind sauber, Marmor, 60er Jahre, Westberlin. Man riecht es - die Vorliebe für bestimmte Putzmittel hat sich auch hier nicht geändert.

Ich klingele im zweiten Stock. Es ist still, ein paar Sekunden. Mit einem Lachen wird die Tür aufgerissen. Ein stämmiger schwarzer Mann streckt seinen Arm auf den Flur, greift meine Hand und zieht mich hinein. Er ist laut, herzlich, eindringlich, so, als hätte er mich schon Jahre freudig erwartet. Mich schaudert, und im nächsten Augenblick mischt sich gute Laune in die
kribbelnden Glieder. Er wirft Kleider beiseite, verrückt Sessel, und stellt einen Stuhl genau vor die Platten.

Ich sehe die Platten durch, während er Geschichten für drei Romane erzählt.
Er hat die perfekte gute Laune Musik, Reggae, Soul und seltene afrikanische Rumbamusik, Franco und Langa Langa. Ich suche seit Jahren vergeblich danach.
Er will sie beinahe verschenken.

Unten an der Haustür lese in den Aushang erneut. Ich bleibe gelassen. Wenn ich mal Probleme mit einer Waschmaschine habe, komme ich zurück, klingele im zweiten Stock und bin geheilt.

Wednesday, June 2, 2010

#200, Werkzeugmarken

Erwin kommt, die Tür schwingt auf. Er geht heute in Rente und gibt einen aus.
Seit Jahren arbeitet er nicht. „Ich parke“, erklärt er. Sie haben einen Deal: Solange sie ihn nicht brauchen, hat er frei. Er hat dafür gesorgt, dass sie ihn nicht brauchen.
Als sie ihm den Computer zeigten, sagte er: „Ich fasse nichts an, womit man Bomben zünden kann!“ - Sie ließen ihn. Sein Tag heute ist wie jeder andere der letzen Jahre - er macht die Runde und erzählt: „Ich war der einzige, der einen dreizehner Schlüssel hatte. Um '70 rum muss es gewesen sein. Ein Jahr ging das, und trotzdem liefen die Reparaturen“. Und nicht nur abends nach Feierabend wurde gesoffen. Morgens um sieben ging einer mit dem Kasten los, zehn Fächer für zehn Flaschen Bier und eins für einen halben Liter Schnaps. Sie trafen sich am Tresen vom Werkzeuglager. Jeder hatte einen Satz Werkzeugmarken, Blechmarken mit einer Nummer und einem Loch. Für jedes Werkzeug gab es einen Nagel. Sie liehen die Werkzeuge aus, gaben ihre Marken ab und tranken das erste Bier.
Die Rente wird reichen, er hat mit 16 angefangen - über 40 Jahre mit Schichtzuschlägen.
„Finger weg!“ sagt er, wenn jemand seine Zigaretten berührt.

Tuesday, June 1, 2010

#96, Informiert sein

Zu Hause ist es kalt, ganz unglaublich kalt, und ein Freund erwartet mich. Ich bin noch warm von der Reise und finde mich nur schwer zurecht. Zum Glück gibt er mir eine Zusammenfassung von dem, was unterdessen geschehen ist, und während wir Hühnchen essen, höre ich von der Lage in Israel, Köhlers Rücktritt, vom Grand Prix, wir sprechen über die spanische transición oder die Rückkehr zu alten Verhältnissen, Fl. gibt mir die genauen Prozentzahlen der Wahlen in Kolumbien an sowie seine Einschätzung zur kommenden Stichwahl, und als wir alle Hühnchenknochen abgelutscht haben, sprechen wir über Kolumbus.