Saturday, July 31, 2010

#165, Linie und Licht

Ich bin aufgewacht wegen eines bösen Traums (ich fühle mich wie ein Kind, das verängstigt ist; und gleichzeitig schäme ich mich vor mir selbst wegen meiner Furcht) und sehe um mich.
Da liegt das Mondlicht auf allen Sachen, liegt darauf wie ein dünner Film. Macht aus geraden Linien gerade Linien, die schimmern. Wenn ich an der einen Ecke ein bisschen knibbeln würde, könnte ich ihn abziehen, diesen silbrigen Film aus Mondlicht.
Auf dieser gebogenen Linie hier neben mir muss sich das Mondlicht aber stärker anstrengen. Diese gebogene Linie, die ich unter allen erdenklichen Linien der Welt als zu mir gehörig erkennen würde, ist schwierig.
Das Mondlicht muss sich richtig bemühen, nicht abzugleiten, zieht sich deshalb ein wenig aus der umliegenden Fläche zurück, die dadurch dunkler wird, und konzentriert sich vollends auf die gebogene Linie. Die erstrahlt.
Ich lege meine Hand auf die gebogene Linie, die sich ein wenig streckt, ein wenig schnauft, und weil das Mondlicht schon gerade dabei ist, beleuchtet es auch meine Hand.

Friday, July 30, 2010

#189, tucutún-tlalak-tutu-tlacuu

Geräusche. Geräusche in Texten: Das ist so eine Sache.
Über Geräusche schreiben, für die es noch kein Wort gibt, meine ich, also nicht so etwas wie miauen. Auch nicht quiiiietschen.
Ich meine Geräusche, die man im Ohr hat, und für die man nun irgendeine Entsprechung finden muss: Das ist so eine Sache.
Vor kurzem habe ich zum Beispiel mehreren Freunden (darunter Literaten, Musikern: Professionellen!) in den Ohren gelegen, sie möchten mir doch, bitteschön, beschreiben, wie sich das anhört, wenn ein alter Zug über alte Schienen fährt.
Am Ende, und mithilfe meiner Freunde, bin ich zu dem Schluss gekommen, es müsse sich so anhören:
Tlalak - tlalak - tlalak - tlalak - tlalak...
Eben ein alter Zug auf alten Schienen.
Dann habe ich Juan Carlos Chirinos’ „El niño malo cuenta hasta cien y se retira“ gelesen und dort gefunden: Ein alter Zug fährt über alte Schienen, tucutún-tucutún-tucutún...
Ich frage mich, ob Chirinos allein zu diesem Geräusch-Wort gefunden hat, oder ob er, wie ich, seine Freunde damit behelligt hat.
Und auf jeden Fall habe ich aus seinem Rhythmus gelernt, dass die alten Züge auf den alten venezuelanischen Schienen eindeutig ein bisschen schneller gefahren sein müssen als die hier. Pffffffffff....

Thursday, July 29, 2010

#200, Den Letzten fressen die Hunde

Meine absolute Zeitdominanz, jeder Morgen will sie, jeder Morgen verlangt sie.
Dabei ist es egal, ob ich um 07.25 aufstehe, oder den Schlummermodus aktiviere und bis 07.34 weiterschlafe (warum wohl gerade 9 Minuten als adäquate Weiterschlummerzeit betrachtet werden? Ist das eine Werkseinstellung, oder habe ich mich selbst irgendwann für dieses Maß entschieden? 9 Minuten, bloß keine 10, ähnlich sehen würde es mir), oder gar den Kaffee ausfallen lasse und erst um 07.50 aus dem Bett schieße:
Das Haus verlassen muss ich, wenn der Wecker in der Küche auf 08.05 steht. Das ist keineswegs die korrekte Zeit, der Wecker geht nach, aber sie dient doch als Hinweis. Wenn ich die 2-Minuten-entfernte-Sonnenallee überquere, sollte die Uhr dort auf 08.15 stehen, dann geht alles gut. 5 Minuten Fußweg trennen mich von der Metrostation, und um 08.25, wie die Bahnhofsuhr dort anzeigt, kommt auch die Metro.
Ich fahre eine Station, und am Hermannplatz angekommen, versichere ich mich, dass die Uhr hier auf 08.23 steht, dann bekomme ich sogar den Anschluss.
Alle diese Zeitanzeigen widersprechen einander, ich habe nie herausgefunden, welche Uhr eigentlich korrekt funktioniert. Es hat auch aufgehört, wichtig zu sein. Meine absolute Zeitdominanz erlaubt es mir, Uhrzeiten nicht mehr so ernst zu nehmen.

Wednesday, July 28, 2010

#200, Der graue Mann, der Inselbändchen sammelt (Achim)

Wer hinein will, muss durch die Tür, und wenn die Tür sich öffnet, dann berührt sie das Windspiel, und wer am Schreibtisch sitzt, blickt auf.
Wie der graue Mann in den Laden kam, ist mir ein Rätsel. Ich bemerke ihn erst, als er direkt neben mir steht und um Verzeihung bittet: Er möchte die Inselbändchen ansehen, hinter mir, und möchte mich nicht erschrecken.
Sein dünner Anzug ist grau, sein Haar so wie sein Hemd in vielen Wäschen erblasst, nur seine Tasche ist schwarz, und so wie sie locker über der Schulter hängt wirkt das Schwarz wie eine strahlende, frische Farbe. Seine Finger fein, flink, unermüdlich: Sammlerfinger, jedem, der selber etwas sammelt, auf den ersten Blick vertraut. Er schaut auf den Schnitt, blättert von der ersten Seite direkt zur letzten, kramt in der Tasche nach einem Katalog, blättert erneut, genauer, und steckt ihn dann achtlos zurück, so wie ein Raucher, der sein Feuerzeug zurücksteckt, während er den ersten Zug macht. Erst vor kurzem kam ein Herr, bot seine tausend Inselbändchen an, verschenkte sie beinah, und war froh als er ging. Noch sind viele da, ich glaube der graue Mann ist der erste Sammler, der sie sieht. Ich wünsche ihm einen Fund!

Tuesday, July 27, 2010

#11, Deliziös!

Dieser Tomatensalat aus

kleinen
wirklich ganz kleinen
winzigen
fingernagelgroßen

Tomaten von meinem Balkon.


Monday, July 26, 2010

#200, Auf der Suche nach der Sibirischen Zelle (Achim)

Die sibirische Zelle war einer dieser Künstlerclubs, die bereits kurz nach der Eröffnung dem Scheitern nah scheinen und sich dann als ein Projekt, das nichts zu verlieren hat, über die Jahre rettet und immer besser wird, bis es, keiner weiß wie, in Vergessenheit gerät.
Seit Jahren habe ich nichts mehr von dem Club gehört, und als ich in die Naugarder Strasse kam, abgelegen im Nordosten des Prenzlauer Berges, sah die Gegend aus, als hätte es den Club hier nie geben können. Die Ecke, die ich noch im Sinn habe, liegt unter der frischen Fassade versenkt. Ich rechne nach: Vor sieben Jahren muss ich zuletzt hier gewesen sein. Die Gegend ist friedlich und reich und hat Läden, die auf Stammkunden zählen.
In sieben Jahren wird alles so geblieben sein - ich finde nichts mehr, an das ich mich erinnern werde. Und wenn mich jemand fragt: wie sieht es jetzt dort aus? Kann ich erzählen: „Schon alles beim Alten. An der Ecke steht jetzt der Milchkaffee auf den Tischchen“. Ich versuche im Geiste die neue Einrichtung rauszureißen – doch da ist nichts mehr zu machen. Die Schuttcontainer sind längst abgeholt.
„Ist ne schöne Ecke geworden!“ – mehr ist nicht zu sehen.

Sunday, July 25, 2010

#89, Bei den lustigen Kuchenbäckern vom Mehringdamm

Die lustigen Kuchenbäcker sind 2, sie haben große Fenster. Hinter dem einen arbeiten sie, hinter dem anderen sieht man das Produkt ihrer Arbeit: Stapelweise frische Kuchen, die man durch eine analoge Sprechanlage, eine Art Plastiktröte, auswählen kann.
Wie sie im Laufe der Zeit immer mehr Besitz von dem Gehweg vor ihrem Laden ergriffen und ihn mit Wasserläufen und Pflanzenbögen vollgestellt haben, hat etwas Wunderland-Artiges.
Manchmal kommt auch jemand, um sich zu beschweren. Aber dann zucken die lustigen Kuchenbäcker bloß mit den Achseln und drehen den Techno ein bisschen lauter.

Saturday, July 24, 2010

#198, Der weiße Laden

In der Weserstraße passiert allerhand. Manche nennen sie eine Simon-Dach-Straße-für-Arme, aber das ist nicht ganz korrekt. Denn die Weserstraße ist gerade dabei, sich selbst zu erschaffen. Sie lässt sich dabei zusehen.
Und manchmal, wenn ich eine Weile nicht recht hingeschaut habe, überrascht sie mich mit einem Konzert hier, einem Event da, einer, zwei, drei neuen Kneipen.
Der weiße Laden dagegen verändert sich nicht. Seit Jahren sehe ich durch die große Scheibe nach innen, dort gibt es eine leere Theke, einen Kühlschrank und einen aufgeklappten Wäscheständer. Es kommt nichts hinzu, es verschwindet nichts. Menschen habe ich darin noch nie gesehen.
Ob dort etwas geschieht und wenn ja, was – das weiß ich nicht. Der Laden jedenfalls ist hell und still, er ist immer sauber. S. hat mir einmal erzählt, dort würde früh am Morgen das türkische Brot für das ganze Viertel hergestellt. Aber S. hat auch behauptet, die hellen Rechtecke, die über dem Wäscheständer hängen, seien Fladenbrote, die dort trockneten. Tatsächlich handelt es sich aber um Geschirrtücher, weiße, oft gewaschene, die vermutlich jeden Morgen erneut zum Trocknen aufgehängt werden oder schon seit Jahren dort unbewegt hängen. Dürfte ich ein Attribut nennen, das ich mit diesem Laden verbinde, es wäre Reinheit.

Friday, July 23, 2010

#155, Schlaraffen-WG

L. ist ein echter Schlaraff. Ich erkenne es nach ihrer Abreise. Überall in meiner Wohnung finden sich Spuren von ihr: Die Lampe auf dem Nachttisch hatte einen roten Schirm, als wir sie beim Trödler kauften, L. nennt sie die Madame-Bovary-Lampe.
In der Küche steht ein Strauß Rosen, den L. nicht einfach ins Wasser gestellt hat. Sie hat ihn für mich drapiert. Das Essen, das sie am Abend zuvor gekocht hat und von dem reichlich übrig blieb, enthebt mich heute aller Überlegungen zur Nahrungsaufnahme. Ich bin bestens versorgt. Dazu kommen die Schokoladen-Variationen, die L. angeschafft hat und die ich mir selbst nicht kaufen würde, die Säfte. Die Schrift, in der sie mir ihren kleinen Abschiedsgruß hinterlässt, ist üppig und trägt weite Schleifen.
L.s Weltsicht ist geprägt von einem erstaunten Utilitarismus, wie ihn nur Leute besitzen, die überhaupt nicht praktisch denken.
Und sogar die Art, wie L. ihre Flip-Flops bei mir hat liegen lassen, ist irgendwie mondän.

Thursday, July 22, 2010

#200, The last day of summer

Wir wissen, dass auch der ungewöhnlichste Sommer endet, weil wir den Wetterbericht lesen. Wir kennen das exakte Datum des letzten Tages dieses ungewöhnlichen Sommers. Danach wird die Temperatur um 10 Grad fallen, und es wird regnen. Was wiederum danach kommt, wissen wir nicht, denn um die Wettervorausschau für die Zeit nach den nächsten zwei Wochen einsehen zu können, müssten wir den Mitgliedsbeitrag zahlen. Tun wir nicht.
Wir kennen nur das Datum, an dem dieser ungewöhnliche Sommer voraussichtlich für den Rest des Jahres endet. Dieses Datum ist heute.
On the last day of summer the sun shines bright / and we’re walking through the woods (The Opiates, The Siren Songs)
Jeder hat seine eigene Art, den letzten Tag dieses Sommers zu begehen. Ich bin viel zu warm angezogen und deshalb gibt es für mich keine Alternative. Zu L. sage ich: Komm, gehen wir ein Sommerfetzchen kaufen, damit ich mich im Winter an diesen Tag erinnere.
Und am voraussichtlich letzten Tag dieses ungewöhnlichen Sommers erzählt mir L. von einem Tag eines ganz gewöhnlichen Sommers vor ein paar Jahren, ein Sommertag, wie man ihn sich schöner nicht ausmalen könnte. Das macht mir Mut, auch die gewöhnlichen Sommer der kommenden Jahre werde ich lieben.

Wednesday, July 21, 2010

#199, Solarblume

Eine der ersten Erfindungen der Solarenergie war eine Lampe, die auf die eigenen Solarzellen leuchtet. Seit Sonntag steht eine ähnliche Erfindung bei mir in der Küche:
Eine Solarblume aus Plastik.

Natürlich kommt sie aus China, und natürlich hat sie statt Erde nur Solarzellen im Topf. Wenn morgens um zehn die Sonne scheint, wird sie aktiv: Die Blüte und die Blätter wippen im Wind. Den Wind muss ich mir allerdings dazu denken. Zwei Tage schon ist der Morgen in der Küche ein anderer. Ich sehe aus dem Fenster, und mein neuer Mitbewohner wippt, und so wie ich es auch mag, die Solarblume in Aktion zu sehen, so sehr wünsche ich mir, wieder Ruhe zu haben, besonders morgens um zehn, zum zweiten Kaffee.
Nur weil die Blume oben im Regal keinen Nutzen mehr hat und ich ihr die eine Stunde ebenso gönne wie mir, ja noch eher gönne, denn es ist die einzige Stunde des Tages, die sie bewegt, werde ich nun stets um zehn einen Spaziergang machen, eine Stunde lang, da kann sie wippen so wie sie will. Und wenn ich heimkomme mit Kuchen und guter Laune ist Ruhe in der Küche,– die eine Stunde reicht für den ganzen Tag.

Tuesday, July 20, 2010

#82, Höflich empfiehlt sich der Rabe

Die Krähen fliegen über den Potsdamer Platz hinweg, über DB- und Sony-Gebäude, als wären sie bloß eine Computersimulation, ein bisschen Bewegung, das der Architekt vor den azurblauen Himmel programmiert hat.
Die Krähen am Potsdamer Platz, über dem Sony-Gebäude, vor dem blassen Halbmond, sehen aus wie die Dinosaurier aus Jurassic Park.
Und obwohl sie so hoch fliegen, als wollten sie mit diesem Kontext nicht in Verbindung gebracht werden, sind die Krähen vom Potsdamer Platz realer, als die Frau, die den Dunkin' Donuts fotografiert.

Monday, July 19, 2010

#186, Vergiss Schweden!

Wir waren an der Admiralsbrücke und haben gezankt. Hitze erhöht das allgemeine Zankpotential, das ist bekannt, deswegen bringen in Italien auch gerade so viele Männer ihre Exfreundinnen um, bevor sie sich eine Kugel in den Kopf jagen.
Als der Techno-Lärm einsetzte, setzten auch wir uns in Bewegung. Nach wenigen Metern kam uns ein Typ auf dem Fahrrad entgegen, der seinen Hund – groß, weiß – vermisste.
Hatten wir nicht gesehen, wir zankten weiter.
Schon hinter dem Café Jacques holte uns eine Frau ein, die fragte: Habt Ihr hier zufällig einen Nackten gesehen? Hatten wir nicht, aber gerne hätte ich über die Gründe spekuliert, die dazu geführt haben mochten, dass der Frau der Nackte abhanden gekommen war – Hitze, Zankpotential – nur L., immer ein paar Schritte voraus, wollte darüber nicht nachdenken.
Ich malte mir aus, dass sich der Hund – groß, weiß – und der Nackte – männlich, nackt – womöglich in derselben Gegend herumtrieben, dass sie vielleicht zusammen auf dem Weg nach Schweden waren, um die Hitze und Schlimmeres zu vermeiden. Und obwohl L. und ich weiterzankten, war ich doch froh, dass sie offenbar nicht die Absicht hatte, sich mit den Beiden zusammenzutun.

Sunday, July 18, 2010

#186, I'm too lazy to let people know that I'm not dumb

Unsere Königsdisziplin: Ausstellungen ansehen. Am liebsten solche, wo man noch nicht alles als Kunst akzeptieren muss, was einem vorgesetzt wird. Deshalb gehen wir besonders gerne auf Akademiefeiern, ins Nationalmuseum für ägyptische Malerei in Kairo oder wie gestern auf die Werkstattpräsentation der UdK.
Der heilige Ernst der Kunstbetrachtung ist hier noch nicht eingezogen, und wo er doch schon eingezogen ist, stellen wir uns mit einem Bier in der Hand in Positur.
L.s Lieblingsarbeit an diesem Tag ist ein Kissen, das aus Rollrasen zusammengenäht wurde. Ich habe mich über den Rotweinbrunnen aus Tetrapacs amüsiert.
Auf den Fluren dazwischen, davor, danach, drüber und drunter: Farben. Und als wir dachten, alles schon gesehen zu haben, kam noch ein Raum mit Farben und dann war da noch der Korridor links runter, voller Farben.
Am Abend im Bett passiert mir das gleiche wie mit 15 im Skikurs. Damals habe ich bei geschlossenen Augen wieder den Hang vor mir gesehen, den ich mich zuvor stundenlang auf Skiern hinuntergequält hatte.
Wesentlich amüsanter sind dagegen die Farbflashs, die sich mir am Nachmittag auf die Netzhaut gebrannt haben, und die jetzt, im Dunkeln, noch einmal explodieren.

Saturday, July 17, 2010

#200, Zigarette im Notfall (Achim)

Der Wasserhahn an der Waschmaschine war defekt. Er schraubte daran rum, so wie es ihm richtig erschien, und auf einmal war der Hahn ab, und das Wasser schoss aus der Wand und war nicht mehr zu stoppen. Der Haupthahn, das wusste er, sei im Nachbartrakt, da ist nicht leicht dran zu kommen, und schnelles Handeln war gefragt. „Ich setzte mich hin und rauchte, schöne tiefe Züge, und ließ es fließen. Ich dachte nur: Das wird richtig teuer!“ Zwischen den Zügen spielte er mit dem Hahn, drehte ihn auf und zu, als wäre er noch angeschlossen, drehte in dann ganz auf, nur zum Trotz, denn was soll schon der geöffnete Hahn das Wasser stoppen, und trat erneut an die Wand. Und plötzlich machte die Sache Sinn: Der geöffnete Hahn ließ sich in die Wand drehen, und das Wasser floss wieder aus dem Hahn – und dann, mit dem Hahn in der Wand, drehte er es einfach ab – so, als hätte er sich grade die Hände gewaschen. „Der Druck war niedriger“ erklärt Lutz. Die Stadtwerke liefern fünf Bar, gleich einer Wassersäule von 50 Metern – „da kannst Du lange schrauben!“ „Erst den Hahn aufdrehen, und dann in die Wand schrauben! Anders geht es nicht.“

Friday, July 16, 2010

#156, Die Liebe und die Gründe

Ich will mich verlaufen“ sagte sie nachts um zwei, und als sie mir die Hand gab, wusste ich nicht mehr, wohin. Die Füße treiben mich umher, unruhig, raus hier, bis an den Stadtrand, in die Wälder, zu den Wanderschildern: dorthin, wo ich schon lange nicht mehr war.
Folge der Liebe oder folge den Gründen! – so pendeln meine Arme. Zum Spaß lasse ich den linken Arm gegen den Takt mit dem rechten schwingen, und achte auf den Schritt, wie jemand, der laute Musik in den Gliedern bemerkt. – Ach, was sollen die Gründe, ich laufe einfach immer weiter, bis der Himmel grün wird, der Boden sandig, die Hitze sanfter, der Wind freundlicher, laufe bis weit hinter die letzte Haltestelle von Schlildow - so weit, dass ich nach zwei Stunden mit müden Beinen im Wald stehen kann. Das ist ein schöner Tag heute, warm, sonnig, nicht heiss - ideal, um nachzusehen, was der Wald heute, nach Jahren, bewahrt hat.

Thursday, July 15, 2010

#144, aus dem Osten mit Liebe

Hinten im Garten spielen die Enkel des 68er-Opas mit dem Wasserschlauch, vorne auf der Straße rufen sich die Kinder Schimpfnamen zu.
In mein Wohnzimmer fällt noch immer ein bisschen mattes Abendlicht, und in der Küche rumpelt die Waschmaschine.
Ich habe Zeit. Erst jetzt wird mir klar, dass ich Zeit habe.
Ich habe keine Verabredung, ich erwarte auch nichts.
Wie fühlt sich das an?
sicher geborgen zufrieden erwachsen verliebt klar mittig sauber - sauber?
Ich könnte diesen Abend nutzen, für lange Mails, die ich seit Wochen verschiebe, für Anrufe, die ich hinausgezögert habe. Während ich noch über die Möglichkeit nachdenke, besuche ich in Gedanken die Personen, mit denen ich in Kontakt stehe. Zunächst diejenigen, die um meine Wohnung herum leben, dann, in größer werdenden Kreisen, die Freunde überall in der Republik. Ich grüße jeden bei seiner Tätigkeit, mit Zärtlichkeit.
Aber heute Abend bleibe ich bei mir.

Wednesday, July 14, 2010

#85, Pinch an Inch

Es ist heiß. Der Schweiß rinnt über den kalten Bauch - fünf Liter am Tag.
Ich kneife ins Fett. „If you can pinch an inch” heißt die Drohung.
So wie ich mich auch bemühe, ein Inch wir nicht draus, nicht vorne und nicht hinten. „Kein Grund sich so aufzuregen,“ flüstere ich dem Bauch zu. Doch der hat heute seinen eigenen Kopf, den er kühl halten will.
Und ich sitze im Sessel, lässig, faul, trinke und trinke und sehe ihm dabei zu, wie er sich durchzusetzen weiß.

Tuesday, July 13, 2010

#69, zart

Deshalb bereite ich so ungerne Fleischgerichte zu:
Kaum hat man sich auf den Balkon gesetzt, kaum in ein Gespräch vertieft, schon sind die Rouladen angebrannt.
Diesmal jedoch klingelte kurz nach dem Essen - In Deutschland macht man die Rouladen so - das Telefon, und schnell stellte sich heraus, dass die Rouladen tatsächlich unwichtig waren.
Wichtig dagegen war das Gespräch zuvor, beinahe intuitiv geführt, vielleicht das Letzte seiner Art und durchaus entscheidend.

Monday, July 12, 2010

#151, Die Schönheit der Stammkneipe

Wer eine Bar in der Nähe seine Stammkneipe nennen kann, hat großes Glück.
Die Stammkneipe ist ein Platz, den man auch alleine aufsucht, entweder spät nachts, auf ein Letztes, oder zu Beginn des Abends, auf ein Erstes. Oder man geht auf ein Erstes und bleibt bis zum Letzten, das kommt auf den Betrieb in der Stammkneipe an, auf die Öffnungszeiten und auf die persönliche Konstitution.
Ich habe Glück, denn ich habe eine Stammkneipe, sie ist zweimal Umfallen entfernt, und ich gehe dorthin, auch alleine, ohne zweimal nachzudenken oder mich umzuziehen.
Ich gehe in meine Stammkneipe, weil ich da Leute treffe, die ich kenne oder zumindest schon einmal gesehen habe. Der kluge Wirt weiß das und wird versuchen, seine Aufmerksamkeit möglichst gerecht auf sein Publikum aufzuteilen.
Manchmal ist sich das Publikum aber selbst genug, und dann setzt sich auch der kluge Wirt mal irgendwo dazu und ist froh, ein bisschen zu quatschen.

Sunday, July 11, 2010

#44, out of service

Der einzige Platz, an dem sich dieser tropische Sommersonntag angenehmer hätte verbringen lassen als in meiner wohltemperierten 1.Stock-Wohnung, wäre ein Swimmingpool auf einer Dachterrasse gewesen, wo mir ein livreetragender Angestellter bisweilen den Gin Tonic aufgefüllt hätte.
Aber es wäre ziemlich stressig gewesen, dorthin zu kommen.

Saturday, July 10, 2010

#200, Doch!

Ich hatte gänzlich verpeilt, dass L. sich für dieses Wochenende zum Besuch angemeldet hatte. L. war völlig zu Recht stinksauer.
Natürlich entschuldigte ich mich, von Herzen auch, ich wusste selbst nicht, wie das zugegangen war. L. wurde weich, als sie meine Entschuldigung hörte, sie kann Aufrichtigkeit nicht widerstehen.
Sie wisse selbst, sagte ich weiter, dass ich eigentlich nicht so vergesslich sei, dass mir so etwas normalerweise nicht passiere!
(Ich dachte dabei an meine Arbeit, wie ich ganz verantwortungsbewusst immer pünktlich dort aufkreuze, immer weiß, was ansteht, immer die Kontrolle habe, mich immer beherrsche, mir selten, wirklich höchstselten, einmal Fehler unterlaufen. Ich fühle mich manchmal so pflichtbewusst, dass ich kotzen möchte, und dass ich mir den Nobelpreis schon deshalb geben würde, weil ich jeden Tag wieder dorthin gehe.)
- Doch, antwortet mir L. prompt. Eigentlich passiert dir so was ständig.
(Und sie denkt dabei an alle Flugzeuge, die ich verpasst habe, an meine Unfähigkeit, Lesungen und Urlaubstermine zu koordinieren, an sämtliche Situationen, in denen sich Probleme mit Bürokratie, Polizei und Ordnungsliebe hätten vermeiden lassen, wenn man ein wenig vorausschauender wäre, als ich es bin.)
Ich protestiere lachend und eigentlich froh darüber, von meinen besten Freunden als dämliches Schaf eingestuft zu werden.

Friday, July 9, 2010

#199, Die Schöpfung streicheln

Mein Bruder hat mir seine Kamera geliehen, eine analoge Canon. Sie liegt gut in der Hand, hat das richtige Gewicht und scheint nicht allzu kompliziert.
Vor kurzem habe ich damit auch Fotos gemacht.
Es war an einem Morgen, im Bett, ein Morgen mit nicht allzu viel Licht. Ich konzentrierte mich auf Details, alles möglichst nah, alles möglichst groß, zum Anfassen beinahe, so wünschte ich es mir.
Ob daraus etwas geworden ist, kann ich nicht sagen. Der Film ist erst halb voll, und wenn ich eine ernsthafte Einschätzung meiner Arbeit vornehmen wollte, müsste ich eingestehen, dass die Mehrzahl der Bilder wahrscheinlich unterbelichtet und verwackelt sein wird.
Aber darum geht es gerade auch gar nicht. Denn was mir am Fotografieren schon immer am besten gefallen hat, das ist der Moment, wenn man den Auslöser drückt. Die Idee, richtig zu sehen. Einen Teil der Realität durch die eigene Aufmerksamkeit zu adeln. In gewisser Weise: Gott zu spielen, die Schöpfung zu streicheln.
Ich bin aber nicht jeden Tag in der Stimmung, Gott sein zu wollen. Es wird noch eine Weile dauern, bis der Film voll ist.
Und bis dahin erinnere ich mich an die wundervollen Bilder, die ich eines Morgens im Bett gemacht habe.

Thursday, July 8, 2010

#46, Horizont

Manchmal, wenn die Situation verfahren ist, finde ich mich selbst im Kreis laufend wie ein verschrecktes Huhn.
Und dann muss man sich erinnern: Daran, dass man gar kein Huhn ist. Und dass es nicht dem eigenen Charakter entspricht, im Kreis zu laufen.
Sondern immer hübsch geradeaus.

Wednesday, July 7, 2010

#195, Glückstag (03.07.2010)

Der Unterzucker treibt mich aus dem Haus, zum Supermarkt. Bis eine Stunde nach dem Spiel habe ich den Einkauf herauszögern können, und nun stehe ich auf der Strasse, geduckt, und versuche zwischen den Fahnen, hupenden Autos und aufgerissenen Mäulern hindurchzukommen. Schon gleich nach ein paar Schritten sehen mich die Nazis in der Kneipe nebenan. Einer ruft: „Aufrecht gehen, wir haben gewonnen!“ – ich lasse das Kinn fallen, schleiche schneller. Natürlich wissen sie wer ich bin, und natürlich wissen sie, dass ich nicht auf den deutschen Sieg gesetzt habe. Ich habe Glück, sie sind guter Laune und machen nur ihre Späße, lachen, tuscheln ein wenig, meinen mich, vielleicht, vielleicht nicht – und ihre Hunde bleiben im Schatten. Hätte Deutschland verloren, hätte ich nicht die Stunde warten müssen, hätte keine Fahnen erwartet, wäre aufrecht auf die Straße getreten, und die Nazis im Blick hätte ich ein stolzes Lächeln gewagt. Die Hunde hätten mich gewittert, und die Meute wäre aufgestanden, nur einer bliebe, um das Bier zu bewachen, und dann wären sie hinter mir her, ich weiß es, denn ich kenne meine Nachbarn, ihre Hunde und ihre Narben. Heute ist mein Glückstag – mehr als Spott habe ich nicht zu befürchten.

Tuesday, July 6, 2010

#95, 1/2 leer? 1/2 voll?

An meinem freien Tag habe ich viel vor.
Einen Text will ich überarbeiten, ins Freibad will ich gehen, am Nachmittag einen Freund treffen, und mal was Vernünftiges kochen wäre schön. Als ich erwache, beginne ich noch im Bett damit, einen Plan zu entwerfen und jedem Ding seine Zeit einzuräumen.
Dann aber umfasst er meinen Kopf mit seinen beiden Armen, und ich denke folgendes:
Wahrscheinlich ist das das Beste, was mir heute passieren wird.
Und noch jetzt, mehrere Tage später, bin ich nicht in der Lage, zu entscheiden, ob dieser Gedanke nun negativ war oder positiv.

Monday, July 5, 2010

#199, Notizen, die in Flugzeugen geschrieben werden

Die Anschnallzeichen leuchten wieder. Die Stewardess hat die Kaffeebecher schon eingesammelt, und die erste Zeitung aus der Heimat gibt nichts Neues mehr her. Ich sitze still, lausche, höre, wie Tische hochgeklappt werden und Zeitungen energischer rascheln. Ich achte auf Klett- Schnapp- und Reißverschlüsse, Knöpfe und Schnallen. Die Geräusche sind hohl und stumpf, gedämpft wie nach dem Schlaf.

Und ab und an höre ich einen Kugelschreiber klicken. Ich sehe mich um. Ganz links am anderen Fenster schreibt eine Frau. Ich sehe nach dem Grund, rechne aus, wie schnell das Flugzeug sinken muss. In zwanzig Minuten geht es zehn Kilometer bergab, jede Sekunde acht Meter, gleich einem Sturz vom Balkon des dritten Stocks. Ich krame auch nach Papier und Stift und rechne aus, wie lange ein Blumentopf braucht, der vom Balkon geworfen wird, notiere die Formel, s ist ein halbes gt Quadrat. Der Flieger sinkt schneller.

Was wird die Frau schreiben? Etwas über Wolken und Melancholie vielleicht, Gedanken zu Abflug und Ankunft, kitschiges Zeug vielleicht, über das sie morgen verlegen lächeln wird. Ich nehme mir für den nächsten Flug vor, die Zeit vor der Landung besser zu nutzen, denn ich hätte auch gerne eine Notiz gehabt, die ich morgen verwerfen kann.

Sunday, July 4, 2010

#200, Suchbild

Mein Bruder hat drei Kinder. Zwei davon kenne ich schon.
Vom Dritten hat mein Bruder gestern ein Foto geschickt. Nicht irgendein Foto, sondern das erste. E. ist zwei Tage alt.
Und weil es sich um das erste Foto vom neuen E. handelt, hat mein Bruder eine Auflösung von etwa 97 Milliarden Megapixeln gewählt.
Als ich die Datei öffne, sehe ich mich zunächst mit einer abstrakten Komposition in weiß und Punkten konfrontiert. Dann begreife ich, dass es sich um das Tuch handeln muss, in das E. eingewickelt ist. Und dass mein Bildausschnitt etwa ein Fünfzehntel des gesamten Fotos zeigt. Natürlich gibt es irgendeine Möglichkeit, das Bild im Ganzen zu sehen, aber ich bin zu ungeduldig, sie zu suchen.
Stattdessen beginne ich, mit den Navigationsleisten auf dem Bild herumzurutschen. Vom Weiß mit Punkten gelange ich zu einer Zusammenstellung aus Blümchen auf Gelb, wobei es sich vermutlich um Hemdchen oder Mützchen handelt, jedenfalls habe ich den Eindruck, auf der richtigen Fährte zu sein.
Das Gesicht! E.s Gesicht will ich sehen!
Auf der Suche nach dem neuen Neffen, das klingt wie der Titel eines Jugendromans. Und es ist auch wirklich spannend.

Saturday, July 3, 2010

#197, Fahrkartenkontrolle

Nie auf der Reise fühle ich mich besser betreut, als wenn der Schaffner des Nahverkehrszuges entlang der Küste den Wagon betritt. Heute kommt er in mein Abteil kurz bevor der Zug im Bahnhof hält – noch gerade kann er meine Fahrkarte ansehen – dann muss er raus und die Kelle schwenken. Der Zug fährt wieder an, vorbei an Stränden, Siedlungen, Olivenhainen, Zäunen und einem Atomkraftwerk. Ich sehe die Überwachungskameras, Lautsprecher und Scheinwerfer, die den Komplex versehren, alles in grau braunes helles Licht gestellt. Der Zug schwankt, doch der Schaffner bewegt sich elegant. Er erschrickt nicht, knickt nicht ein, weiß instinktiv, wo er sich abstützen muss. Vor mir spricht er leise mit einem Fahrgast, erklärt, dass er für den Zug, der an ein paar Bahnhöfen weniger hält, zwei Euro mehr bezahlen muss: „und der Zug ist 15 Minuten schneller in Barcelona, natürlich ist Ihr Ticket gültig, ja Sie können weiter mitfahren, nur 2 Euro extra, kein Problem“ – er bedankt sich für den Schein und wechselt. Noch einmal kommt er zu mir – ich nicke ihm freundlich zu. Er sieht auf meine Karte, sieht seinen Strich mit Kugelschreiber, erinnert sich. Und ich weiß jetzt, dass mir bis Barcelona nichts mehr passieren kann.

Friday, July 2, 2010

#12, Globetrotter

In einer fremden Wohnung einen Kaffee trinken und sich zu Hause fühlen.

Thursday, July 1, 2010

#199, Palmen

Wird ein Hotel gebaut, kommen die Bagger und graben die Olivenbäume aus. Ist der Pool fertig, kommen die Palmen. Die großen Palmen sind eigentlich ortsfremde Gewächse. Sie wachsen hier zwar, aber nur, weil sie gut bewässert werden. Erst nach vielen Jahren reichen die Wurzeln bis in Erdregionen, die feucht genug sind, um sie die trockene Zeit im Sommer überstehen zu lassen. Damit rechnet hier kein Bauherr mehr. Schwarze Plastikschläuche durchziehen den Boden um Parkplätze und Pools, und abends gesellt sich zum Zirpen der Grillen das Zischen der Bewässerungsanlagen. In einigen der neuen Hotels sind die Palmen bereits braun geworden, und zu den Plastikliegen gesellen sich schon die ersten Stümpfe. In die ganz neuen Siedlungsanlagen wurden gar keine Palmen mehr gepflanzt. In den Ruinen unfertiger Hotels wächst das Unkraut. Die Kräne sind längst abgebaut.

Die dickste Palme habe ich heute entdeckt, am Weg hinter dem Hühnerstall. Sie steht inmitten von Gestrüpp vor einer alten Finka, die langsam verfällt. Wer genauer hinsieht, bemerkt, dass die Sträucher mal zu einem Garten gehörten. Ihre Anordnung verrät Sinn für eine Landschaft, und auch im freien Wildwuchs zeigt der Garten Würde. Ich klopfe und warte bis der Fernseher leiser gestellt wird. Ich darf mich setzen.