Thursday, December 30, 2010

#200, Ilse und der Schokofrosch (Achim)

Seit Jahren will Ilse mit mir ins Bett, mit mir und mit dem Wirt, und sie versichert uns, sie würde auch mit zweien fertig. Sie umreißt, wie sie das anstellen will, und dann, bevor die Szene zu peinlich wird, schließt sie schwungvoll mit „und ab geht’s!“ Ilse ist Ende 60 und sonderbarerweise aus dem wilden weiblichen Jahrzehnt „zwischen 39 und 40“ nicht recht herausgewachsen, vielmehr scheint für sie der Mond seit den Wechseljahren immer günstig zu stehen. Zu Weihnachten necke ich sie mit einem Schokofrosch, und sie spendiert mir einen Tee. Zum Wirt sagt sie: „Stell ihn hinten in die Ecke, ich erkläre Achim mal was.“ Meinen Schokofrosch will sie nicht: „Was soll ich denn damit?“ fragt sie – Na küssen! – Sie will in die Ecke, zerrt mich zum Spaß vom Hocker, bleibt an der Bar stehen: „Willste nicht oder kannste nicht?“
Vielleicht sollte ich sie wirklich mal in die Ecke bitten und ihr mit einem echten Kuss drohen. Sie wird nach dem Wirt schreien, ich weiß es – aber wie! „Da, nimm die!“ wird sie zeigen, „soll ich Dir an der Hand nehmen?“, und sie wird nach mir greifen und sich am Gerangel der Finger erfreuen, als hätte sie längst gewonnen.

Wednesday, December 29, 2010

#173, Metamorphose

Man muss schon einen Wirt kennen, damit man es erleben kann: Man trifft sich zu einem ruhigen Kaffee, bevor die Kneipe öffnet, und dann bleibt man sitzen. Aus einem Raum, der zuvor wenig mehr war als bestuhlte Oberfläche, der im Halbschatten dämmerte ohne irgendeinen Eindruck zu erwecken, wird eine Kneipe.
Dies geschieht nicht mit dem Entzünden der Lichter und dem Öffnen der Tür. Wenn die ersten Gäste kommen, geht ein Schwanken durch die Oberfläche, der Raum blinzelt, aber dann dreht er sich noch einmal auf die andere Seite. Es braucht eine kritische Masse an Gästen, fünf vielleicht, besser noch sieben, und dann steht der Raum plötzlich mit einem Ruck auf den Beinen und ist Lachen, Stühlerücken, zur Toilette gehen, Musik, an der Bar stehen, Gemurmel, Willkommensrufe, Blicke, Tragödie, sich kennenlernen, Lokalverbot, Geschichten erzählen, Geschichten hören, dasein, zugucken.

Tuesday, December 28, 2010

#199, Flieht, ihr Narren (Achim)

Der eine Nachbar hat den anderen Nachbarn verpfiffen! Zwar kenne ich beide nicht, aber die Häuser, in denen sie wohnen, die kenne ich: Einfamilienhäuser, weiße Wände, kleine Gärten, braune Zäune, grade Straßen, Parkstreifen und Gehwege, auf denen jeder Zigarettenstummel auffällt und zu Spekulationen einlädt. Was man tut und was nicht scheint nirgends spannender zu sein als hier.
Der Nachbar hat gesehen, wie sich im Eisregen Eis um die Äste eines Strauchs gelegt hat. Der Strauch sieht schön aus, doch der Nachbar hat Angst: das Eis gibt den Ästen mehr Gewicht, dadurch hängt er einen ganzen Arm breit über dem Gehweg. Noch etwas Schnee und der eine große Ast bricht. Das Ordnungsamt weiß schon Bescheid, höre ich den anderen Nachbarn flüstern - er zieht vorsichtig an den Ästchen, um etwas Eis abzuschütteln.
Ich warte, bis ich allein bin, und versuche es ebenfalls – ganz sachte, nur, um die Gefahr abschätzen zu können. Der Busch überragt mich um zehn Zentimeter, die eine Schulter könnte
etwas Schnee abbekommen. Auch ich habe Angst, um den Nachbarn, meine Eltern und um alle, die zu alt sind, um einfach so mit einem herzhaften Lachen fliehen zu können, wenn mehr Schnee fällt –
gleich morgen zum Beispiel.

Monday, December 27, 2010

#195, Konfuzius sagt

Gestern habe ich zum ersten Mal seit mindestens zehn Jahren wieder eine Folge Lindenstraße gesehen. Der supersympathische Momo ist auch nach zehn Jahren nicht wiederaufgetaucht, sämtliche Beimers und Zänkers wohnen dagegen noch immer in der Lindenstraße, als ob es im ganzen großen München keine anderen Mietwohnungen geben würde, in die man auch mal umziehen könnte.
Ein bisschen grauer sind sie alle geworden, nur Mutter Beimer sieht noch immer haargenau aus wie Mutter Beimer, weiß der Himmel, wie sie das gemacht hat. Ansonsten besitzt die Serie eine Kontinuität hart an der Schmerzgrenze, also wirklich wie im richtigen Leben. Nur bei der jüngeren Generation lässt sich ein wenig Veränderung attestieren: Aus Iffi ist eine Matrone und aus Klaus ein Walross geworden. Und natürlich gibt es ein paar Zugezogene, blonde Mädchen, die Kinder haben von den Kindern der jüngeren Generation. Oder vielleicht habe ich meine Mutter da auch falsch verstanden.
Ich sehe mich zu Hause um, die Standuhr kenne ich, solange ich denken kann. Aber wir sind mehrmals umgezogen, unsere Familie ist heute anders als vor zehn Jahren, manche sind weggegangen, andere hinzugekommen. Ich habe das Gefühl, bei uns hat sich deutlich mehr Leben ereignet als im Fernsehen.

Sunday, December 26, 2010

#200, Schneeschaufel (Achim)

Nach Jahren durch Bonn zu laufen ist wunderbar. Als ob ein Hebel umgelegt wurde ist mein Orientierungssinn wieder da, und ich folge meinen Beinen zielsicher durch Straßen, die mir noch gestern vergessen schienen. Ich staune, wie vertraut mir eine Stadt und ihr Rhythmus nach so langer Zeit noch sein kann, und wie schnell ich mich wieder in einer Weise in ihr bewege, die Jahre der Gewöhnung fordert. Ich sehe mich nach bekannten Gesichtern um – träfe ich jemanden, ich würde nur fragen, wo er die letzte Zeit gesteckt hat und verwirrt auf das Kind an seiner Seite sehen.

Heute räume ich den Schnee vor dem Haus meiner Eltern. Ich greife die Schneeschaufel vor der Tür und schätze ihr Gewicht. Sie erscheint mir etwas klein, aber sie liegt gut in der Hand. Sekunden später, mit dem ersten Schwung im Schnee, erinnere ich mich an eine Bewegung und eine Arbeit, die mir als Kind in den Bergen vertraut war. Ich muss sie nun über 25 Jahre in den damals noch kindlichen Armen getragen haben und mit ihr gewachsen sein, ohne dass ich davon etwas wusste, und ich staune, wie gut ich diesen Schwung einstmals beherrscht haben muss.

Saturday, December 25, 2010

#200, Glatteis im Rheinland (Achim)

Der Bahnsteig ist glatt, sehr glatt, auch Stunden nach Einsetzen des Eisregens hat keiner gestreut. Ein paar Fahrgäste warten auf den Zug, einige wollen nach Euskirchen, einige nach Bonn - und im kleinen Bahnhof steht der Weichensteller und tröstet mit trauriger Miene die Wartenden - was soll er machen, er kann nicht helfen, sein Streusalz ist verbraucht - ein Mann versteht das, teilt seine Miene, und versucht auch ihn zu trösten. Eine alte Dame spricht mich an, ob ich etwas weiß, wo ich hin will, wo sie hin will, und wo der junge Mann neben mir hin will - welcher Zug denn zuerst kommt - der nach Bonn wird es. Wir steigen ein, erzählen von Glatteis in alten Zeiten, das kennen wir schon, die Wut verschwindet in Nachsicht, kein Grund ungeduldig zu sein - und als Richtung Rheinbach die Durchsage kommt: "Der Zug hält nicht in Meckenheim, die Bahnsteige sind zu glatt" geht ein fröhliches Lachen durch den Zug. Ein paar Handys werden gezückt, Verabredungen werden getroffen - kein Fluchen, nur eine Hand voll neuer Freunde, die später, in Bonn, gemeinsam aussteigen und fröhlich erzählend zur Rolltreppe tasten.

Friday, December 24, 2010

#173, Rosskur

Seit Jahren verbringen wir den Nachmittag von Heiligabend im Sanatorium. Die Menschen dort, Männer wie Frauen, sehen mit leeren Augen aus dem Fenster. Manchmal hört man Schreie aus den Zimmern, es riecht süßlich in den Gängen, nach Medikamenten, nach Fäkalien. Dabei ist es sauber und sogar jahreszeitlich dekoriert. Traurige Tannenzweige sind auf einer Höhe angebracht, die es unmöglich macht, sie einem Anderen ins Auge zu stecken.
Ein Mann steht in Jogginghosen aus dem Flur und beschimpft alle Vorbeikommenden. Die Schwestern sind längst daran gewöhnt und beachten den Mann nicht, aber die Frau, die sich das Tablett an den Kopf schlägt, versuchen sie dienstbeflissen wegzuführen.
Der Höhepunkt des Tages ist die Weihnachtsfeier. Zu klumpigem Stollen und wässrigem Tee werden die Geschenke verteilt, ein Duschgel, Socken, die von den meisten Bewohnern nicht einmal wahrgenommen werden. Ein Mann beißt in seinen Schokoweihnachtsmann, das Alupapier hat er zuvor nicht entfernt. Meine Mutter kennt alle Bewohner mit Namen, ich nur ein paar. Jedes Weihnachten verbringen wir hier, und jedes Mal komme ich stärker heraus als ich hineingegangen bin.

Thursday, December 23, 2010

Wednesday, December 22, 2010

#93, Nachtrag: Driving home for christmas

Der Weg hat wenig mit der Vorstellung zu tun, im Cadillac durch verschneite Hochwälder zu fahren. Stattdessen kauern wir uns zu acht in die Sitze des alten VW-Busses, die Scheiben sind zugefroren und man kann nicht hinaussehen. Sowieso ist es Nacht, aber die Landschaft neben der Autobahn hätte auch bei Licht wenig Höhepunkte zu bieten.
Und je mehr Stunden wir das Dunkel zerpflügen, desto wärmer wird meine Vorstellung von gutbürgerlichen Wohnzimmern, mit erleuchteten Weihnachtsbäumen und kleinen Gläsern mit schlechtem Schnaps, jedes Mal, wenn man eine neue Stube betritt und einen weiteren Baum bestaunt.

Tuesday, December 21, 2010

#94, Sitzen im T-Shirt

Der Mann war da, der die Heizung repariert hat. Jetzt ist es warm im Wohnzimmer, fast kommt mir die Empfindung von Wärme eigenartig vor. Um mich schneller wieder daran zu gewöhnen, drehe ich auch die Heizung im Bad an, obwohl sie gar nicht kaputt war, und dann auch noch die in der Küche, obwohl ich heute ganz sicher nicht vorhabe, Zeit in der Küche zu verbringen - und nach kurzem Überlegen drehe ich auch noch den Heizkörper im Schlafzimmer an. Ich weiß, Schlafen in überhitzten Räumen ist ungesund. Aber wenn ich gar nicht schlafen will?

Monday, December 20, 2010

#198, Nach dem Fest ist vor dem Fest

Heute verbringe ich einen Abend mit mir, in eine Ecke der noch bezogenen Couch geknüllt, ich blicke in den leeren Raum vor mir.
Eine Party funktioniert so: Man stellt Alkohol und Musik bereit und gibt möglichst vielen Leuten Bescheid, wann und wo sie sich beides abholen können. Dann wartet man darauf, wer an diesem speziellen Abend Lust darauf hat, sich bei Tanzmusik zu betrinken: Eine ganze Menge.
Ich sehe in den nun wieder leeren Raum vor mir und erinnere mich daran, dass mich mein Tanzpartner wild von einem Arm in den anderen geschleudert hat, dass die Nachbarin mehrmals vor der Tür stand, aber nicht trinken wollte, und dass die Toilette ständig verstopft war. Ich weiß auch noch, wer sich den Ellbogen aufgeschnitten hat, wer am Ende umgefallen ist und wer mit wem nach Hause gegangen ist. Das alles passiert wie Kino in meinem heute leeren Raum. Und ich erinnere mich auch an der Gefühl der Geborgenheit, das von meinen Freunden ausgeht, aus der Küche herüberwabert und aus dem Sofa aufsteigt. Die Meisten von ihnen lade ich ein, seitdem ich Alkohol an meinen Festen anbiete. Gekommen sind sie aber wegen mir, und ich weiß, jeden blöden Spruch werden sie mir verzeihen.

Sunday, December 19, 2010

#200, Topfenstrudel (Achim)

Der Baum, das ist das Bild, das erklärt, wie ein Wort funktioniert: Ein bestimmter Klang, eine Vorstellung, und dazu vielleicht eine Erinnerung an einen bestimmten Baum, mal an eine knorrige Eiche neben der Kirche und mal an Pappeln, im Winter an Pappeln im Schnee, im Frühjahr an schneiende Pappeln, im Herbst an Pappeln im Wind. Oder ich erinnere mich an eine gefällte märkische Kiefer mitsamt Waldarbeiter und Kettensäge, mit Motorengeräusch und Kommandos, das Weite zu suchen wenn der Baum fällt. Und wenn ich erzähle, gut erzähle, dann wird das Bild vom Baum lebendig – so könnte man meinen.

Manchmal, in seltenen Fällen, gerät dieses Bild vom Wort ins Wanken. Gestern zum Beispiel ließ ich mir erklären, wie der Blätterteig des Topfenstrudels so gut aufgehen konnte. Der Teig kommt aus dem Supermarkt, kein Geheimnis, er gelingt immer. Aber wenn man zwei Strudel nebeneinander legt, dann stützen sie sich im Ofen gegenseitig. Ich betrachtete das Backblech mit den Kuchen und freute mich, und ich fand den Kuchen, so wie er da lag, schön. Das, was ich sah, färbte ab, und zwar auf ein Wort, auf das, was ich mit „Stütze“ in Zukunft meinen werde: Zwei gelungene Topfenstrudel, die nebeneinander auf einem Backblech liegen.

Saturday, December 18, 2010

Friday, December 17, 2010

#199, Mädchenkammer (Achim)

Selbst wenn ich nur den dicken Zeh bewege knarrt der Boden, und jeder Schritt lässt das ganze dumpfe Spektrum eines großen rumorenden Magens erklingen, der unter den alten Teppichen verborgen liegt. Draußen schneit es, wird grade dunkel. Konrad macht die zweite Lampe an, die, die seit einigen Wochen einen Wackelkontakt hat, wie er erklärt. Er tippt an die Birne und sie leuchtet wieder. Ich sehe ihm auf die Füße während er den Tee auf einem silbernen Tablett bringt: Es gelingt ihm, geräuschlos über den Teppich zu schleichen, als ob es einen geheimen Pfad durch die Wohnung gibt, den nur er kennt und der ihn nicht verrät, wenn er nachts auf und ab läuft. Dabei lacht er gerne, erzählt, holt neue Kekse, neuen Tee, und zeigt mir dann auf meinen Wunsch die Mädchenkammer zur Küche. Eine niedrige Tür, ein winziger Flur und ein kleiner Raum, drei Quadratmeter, voller Kartons und Bücher. Ein Bett würde reinpassen, meint er, zumindest ein kleines, ein Schlafplatz, wenn ich die Füße einziehe. Hier hing ein Bild, hier eine Lampe, die Tapete uralt, fast wie gerettet. Aus dem kleinen verstaubten Fenster sehe ich hinunter auf die tiefverschneite Bornholmer Straße – hier will ich wohnen, erkläre ich ihm.

Thursday, December 16, 2010

#40, Fünf ausgesprochen schöne Wintermomente

Nein, du musst zum Rauchen nicht auf den Balkon.
Du musst nicht mitkommen, ich kann auch alleine gehen.
Bleib im Warmen, mach dir einen Tee.
Wir können auch ein Taxi nehmen.
Deine Zigaretten sind alle? Ich gehe dir welche holen.

Wednesday, December 15, 2010

#200, Heissa!

Eisplacken auf allen Gehwegen und meine neuen Stiefel mit den Ledersohlen – wer sich da gleich ein Unglück ausmalt, liegt völlig falsch. Stattdessen rutsche und schlittere ich den ganzen Tag, und das ist ein Heidenspaß.
Angefangen hat es heute morgen, da rutschte ich zum ersten Mal so richtig schön die Sonnenallee entlang und weil ich ja mit meinem Kostümchen nicht fallen wollte, musste ich schließlich ein Bein zum Ausbalancieren hernehmen, weit über Hüfthöhe streckte ich es empor, und begleitet durch ein laszives Huch! ergriff ich endlich die Gelegenheit beim Schopfe, dem ganzen Viertel meine geblümte Unterwäsche vorzuführen.
Weiter ging es vor meinem Arbeitsplatz, an der Eingangstür rutschte ich nämlich mit Schwung mehrere Kilometer in Richtung Osten vorbei, sodass ich auch gleich noch eine prima Ausrede fürs Zuspätkommen hatte.
Am Nachmittag suchte ich mir den hübschesten Jungen von Mitte aus und schlitterte zielgenau auf seinen Schoß. Tut mir so leid, hauchte ich, die Ledersohlen... und er besah sich die Ledersohlen ganz genau, machte eine anerkennende Bemerkung über die Qualität der Schusterarbeit und hinterließ darauf mit wasserfestem Edding seine Nummer.
Nach Hause ging ich dann ganz vorsichtig und versuchte noch nicht einmal, dem Dönermann im Schlittern den Döner aus der Hand zu reißen.

Tuesday, December 14, 2010

#199, Einmal nach Much fahren (Achim)

Eigentlich habe ich keinen Grund, nach Much zu wollen. Much ist eine Kleinstadt östlich von Siegburg, mitten in bewaldeter Hügellandschaft, und wer von dort in die Stadt kam hatte seinen Ruf: „us de Strüch“ sagt mein Vater, er kommt aus den Sträuchern des rheinischen Hinterlandes. Oft saß ich im Bus nach Much. Am Bahnhof von Siegburg bei Bonn stieg ich ein, zusammen mit immer denselben Fahrgästen, um bald schon im Wald wieder auszusteigen, und lief noch zwei Kilometer auf Waldwegen bis zu einem Wasserwerk - einer Frau wegen, die dort wohnte. Während ich schweigend meinen Schritten folgte saß ich im Geiste noch im Bus und fuhr mit den Pendlern bis zur Endstation, und am Wasserwerk angelangt waren die Leute aus Much noch lange nicht zu Hause, sahen aus dem Fenster und ließen die mir so fremde und ihnen vertraute Landschaft vorbeiziehen. Ich suchte nach Gründen auch bis nach Much zu fahren, fragte, ob jemand jemanden kennt, fand nichts und sah dem Bus nach. Und diesen Winter will ich auf eigene Faust nach Much fahren, dem Schein nach die Haltestelle verpassen, ebenso scheinbar gelassen aus dem Fenster sehen und verschwiegen die Spannung genießen, die die Fahrt durch die Sträucher verspricht.

Monday, December 13, 2010

#91, Nennt mich Linda... Linda de Mol

Schon am Tisch habe ich gedacht: Hm, die lacht aber! Und: Oh, das würde er normalerweise doch niemals sagen!
Tage später trudelt dann die erste Nachfrage bei mir ein, du sag mal, die Telefonnummer...?
Obwohl ich ihre Antwort schon kenne, gebe ich die Frage weiter: du sag mal, soll ich deine Telefonnummer...? Mit einem Smiley antwortet sie und dem Zusatz Schmuckes Kerlchen.
Jetzt bin ich gespannt, wie die Geschichte weitergeht, oder wie die Geschichten weitergehen, denn da gibt es ja immer ihre und seine. Und ich werde sie getrennt voneinander erfahren.

Sunday, December 12, 2010

#145, White Spirit

Über Nacht hatte es getaut, am Morgen war die Straße nass, der Rollsplitt knirschte auf dem Asphalt mit jedem Schritt.
Jetzt ist der Wind wieder stärker geworden, das Windspiel auf einem Balkon klingelt aufgeregt die ganze Straße hinunter. Es beginnt auch wieder zu schneien, mit kleinen, harten Flöckchen zunächst, die von der Haut auf den Wangen abprallen, wir laufen durch den Schneefall wie Schiffe durch die Wogen fahren, die Gischt vor uns hertreibend.
Das Ende der Straße liegt wie in Nebel, so viel Schnee fällt dahinten, das rote Licht einer Ampel leuchtet hindurch wie eine Boje auf hoher See. Wir sprechen nicht, aber das Knirschen des Rollsplitts hat denselben Rhythmus, wir gehen schnell, das Klingeln des Windspiels um uns, der Schnee wie Nebel, und alle zwanzig Schritte etwa kommt gepresst wegen des geschlossenen Mundes, ebenfalls rhythmisch, dabei nicht aufgeregt, sondern eher erzählend, sein Fluch: Scheiße!

Saturday, December 11, 2010

#199, Der Amethyst (Achim)

Steine begleiten mich ein Leben lang. Als Kind streifte ich schon über herbstliche, frisch gepflügt Äcker, lief Furche um Furche mit einem Plastikeimer und sammelte Achate, Drusenstücke und Amethyste, die nach dem ersten Regen im feuchten Boden leuchteten. Seither suche ich, sobald ich Steine sehe. Ich suche in Kiesbänken von Flüssen oder an Kiesstränden felsiger Küsten, selbst dann, wenn ich nicht weiß, nach welchen Steinen die Suche hier lohnt und ich eigentlich die Landschaft genießen möchte.

Vor Jahren schenkte mir eine Bekannte einen Achat, eine dünne, durchscheinende Scheibe, dazu einen Zettel, der erklärt, welche Farbe welche Kräfte fördert. Ich freute mich und legte ihn mitsamt der Beschreibung in eine Pilgermuschel auf das Fensterbrett, und natürlich verschwieg ich die drei fast vergessenen Kisten mit Steinen im Keller, die mich von Umzug zu Umzug begleiten. Heute fand ich die Achatscheibe beim Putzen, die Farben waren nach Jahren im Sonnenlicht erblasst. Ich ging in den Keller, holte neue Kohlen, sehe die Kisten, krame nach einem Amethyst. Von welchem Acker er wohl stammt? Ich stecke ihn in die Hemdtasche, lege ihn auf den Schreibtisch und schiebe den erklärenden Zettel darunter. Er strahlt in kräftigem Violett - ich bin stolz, ihn gefunden zu haben.

Friday, December 10, 2010

#59, Mir doch egal, ich lass das jetzt so

Nächste Woche werde ich 32. Seit einiger Zeit schätzen mich aber Männer wie Frauen auf 25. Natürlich entzückt mich das, ins Bett gehe ich deshalb trotzdem mit niemandem.
Ich freue mich stattdessen, dass die neue Anti-Faltencreme zu wirken scheint. Oder vielleicht machen mich auch die vielen Pickel jünger, weil ich die neue Creme eigentlich gar nicht so gut vertrage.

Thursday, December 9, 2010

#168, Sandy und Klaus

Meinen Hibiskus habe ich aus dem Aldi, es ist ein Hochstämmchen und wie alle Hibisken eine Balkonpflanze. Ich habe sie Sandy genannt. Sandy steht seit Anfang November in meinem Schlafzimmer am Fenster, weil Sandy Frost nicht verträgt. Sie hat schnell gemerkt, dass es Winter geworden ist, hat alle Blätter abgeworfen und steht nun krakelig, so ein bisschen unansehnlich, zwischen den immergrünen Zimmerpflanzen, die der Winter nicht kümmert.
Vielleicht gibt es auch zwischen Zimmerpflanzen eine gewisse Rivalität, vielleicht hat sich Sandy über die Arroganz von Benjamin und Palme geärgert, die den Rhythmus der Jahreszeiten nicht kennen. Vielleicht wollte sie es allen beweisen.
Jedenfalls hat Sandy noch lange nach den ersten Frösten eine Blüte ausgebildet, deren Wachstum ich mit Interesse verfolgte. Alles schien normal zu verlaufen, nur gab es eben keine Blätter mehr an den Zweigen.
Und heute prunkt Sandy mit einer allerletzten feuerroten Blüte vor der geschlossenen Schneedecke hinter dem Fenster, sie prunkt vor dem dicht fallenden Schnee. Dabei kann sie auch Klaus, den Weihnachtsstern, gar nicht besonders leiden.

Wednesday, December 8, 2010

#175, Ulf und die Schneemännchen (Achim)

Ulf hat rote Markierungspunkte gekauft. Die Kassiererin fragt ihn: Darf es noch etwas sein, ein Stift mit einem Schneemännchen vielleicht? Ob sie ihn wohl nett fand? Ich erkläre ihm, dass die Kassiererin dazu gezwungen wird, jedem Kunden an der Kasse noch etwas aufzuschwatzen, sie macht das nicht freiwillig – und zu Markierungspunkten schienen ihr diese Stifte zu passen, zu Trennblättern hätte sie Aktenordner empfohlen. Sie hatte Berliner Akzent - und grade mich fragt er, ob Schneemännchen ein Ostwort ist, vielleicht eine typische Verkleinerungsform für Gegenden mit wenig Schnee, denn er kennt es nicht, er kennt nur große, richtige Schneemänner. Ich vermute, dass Mariechenkäfer ein Ostwort ist, denn ich habe von einer Plage dieser Käfer an der Ostsee gehört. Mariechenkäfer sind bestimmt nichts anderes als Marienkäfer. Er mag Mariechenkäfer, er mag Schneemännchen, er mag die Kassiererin und er will der Sache auf den Grund gehen. Morgen geht er wieder hin und kauft gelbe Markierungspunkte, dann grüne, dann blaue, dann schwarze, und er ist gespannt darauf, was sie ihm anbieten wird, wenn er strahlend an der Kasse steht.

Tuesday, December 7, 2010

Monday, December 6, 2010

#161, Helden der Arbeit

Vor allem an Montagen wird es geradezu unerträglich, dieses Aufstehen. Noch mit der Wärme einer langen Sonntagnacht im Rücken sitze ich am Frühstückstisch, halte die kalten Hände um den Kaffee verschränkt und rauche. Ich bin verzweifelt, ich frühstücke nicht, aus Verzweiflung, ich rauche. Ich bin nicht für die Erwerbstätigkeit geboren, mir fehlt jegliches Talent zum Pünktlichsein. Ich frage mich, wie es soweit hat mit mir kommen können: Am Montagmorgen, und den Tag darauf, und den Tag darauf und noch mehrere Tage darauf am Frühstückstisch sitzen und sich den Abend herbeiwünschen. Lu mir gegenüber sieht ebenfalls nicht besonders frisch aus, die Haare hängen ihm noch ungekämmt ins Gesicht, aber meine Verzweiflung teilt er nicht. Es geht ja nicht nur dir so, meint er. Da hat er Recht. Ich sehe mich eintauchen in die graue Masse der Erwerbstätigen, wir drängen in die Metro, den Bus, den neuen Tag, die neue Woche, die wie die Woche zuvor sein wird, und seltsamerweise tröstet mich das.

Sunday, December 5, 2010

#195, Die Nacht kippt in den Tag (Achim)

Über die Monate verschiebt sich mein Rhythmus täglich ein wenig mehr in den Abend und in die Nacht. Zur Zeit werde ich um vier Uhr müde und schlafe bis eins – noch ein paar Tage, und die Nacht läuft über: Ich gehe nicht um vier schlafen, sondern warte, bis der Bäcker auf macht, um sechs, einer sogar schon eher. Ich koche Kaffee, esse warme Schrippen, höre die ersten Nachrichten des Tages und tue so, als sei ich auf dem Weg zur Arbeit. Und manchmal setze ich mich tatsächlich in die Ringbahn, morgens um sieben, genieße die schweigende Masse der Menschen in der Bahn, lese die Überschriften der Zeitungen, lausche dem Knistern der Blätter und den anderen zaghaften, noch tagscheuen Geräuschen, die dumpf an mein Ohr dringen, so als würde ich spät abends nach Stunden rauschenden Verkehrs aus dem Auto steigen, in einem Dorf in dem ein alter Bekannter wohnt, der mich erwartet hat, und während ich mich strecke und in der frischen Landluft gähne, geht im Haus das Licht an, die Wohnungstür öffnet sich, und ich blicke mich um und freue mich darauf zu sehen, wie die noch vertraute Landschaft nach Jahren am Tage wirken wird.

Saturday, December 4, 2010

#107, Sie und ich

Die Mikrowelle heizt solange, wie sie will. Auf dem Handy kann man nur montags und freitags nach unten scrollen. Der Wecker geht immer wieder nach, so oft ich ihn auch auf die richtige Zeit einstelle. Die Waschmaschine beißt gereizt, wenn man sie zu ungewohnter Stunde nervt. Und der ipod wird den Teufel tun und im Shuffle-Modus von der einmal gewählten Playlist abweichen.
Meine elektrischen Geräte sind wie ich: Sie haben ihren eigenen Kopf, man muss sie gut kennen, um halbwegs mit ihnen klar zu kommen. Manchmal treibt mich das zur Verzweiflung. Heute stehe ich aber zwischen ihnen und freue mich, all ihre kleinen, hinterhältigen Tricks zu kennen.

Friday, December 3, 2010

#98, Gutes Gefühl

Es wird wohl am Winter liegen: Ich werde nicht richtig wach. Und richtig fröhlich werde ich auch nicht. Im Gegenteil, ich gehe herum und bin sensibel. Am liebsten hätte ich schlechte Laune den ganzen Tag. Aber da sind die Anderen, die mich nicht lassen - also gehe ich hinaus und gebe mir Mühe, wach und fröhlich und gutgelaunt zu wirken. Aber das geht ganz schön an die Reserven.
Heute habe ich einen Brief gefunden, als ich nach Hause gekommen bin. Ein Freund hat mir seinen neuen Kurzgeschichtenband mit der Post geschickt: Vielleicht kann ich ja einfach zu Hause bleiben.

Thursday, December 2, 2010

#200, Wie Schnee wirklich ist (Achim)

Ich liebe den Schnee, und ich liebe es, meinen Blick in den Flocken taumeln zu lassen, mein Alter zu vergessen und mich wie ein Greis zu fühlen, der mit den Augen eines Kindes aus dem Fenster sieht. Vor Jahren weilte ich für einige Wochen in einem Hof am Forgensee. Es war Ende März und die Bauern schmissen den Kuhmist auf den schmelzenden Schnee, damit er mit dem Tauwasser gemächlich in die erwachende Grasnarbe ziehen konnte. Ich lief auf den Feldwegen und suchte ein Wort, eines, das sagt, wie Schnee ist. Schnee ist weiß, kalt, er knirscht unter den Füßen, ist nass oder trocken, alles mögliche fiel mir ein. In der Stube machte ich eine Liste der Wörter, alle richtig, aber beliebig, unvollständig. Die Suche zog sich hin, zwei Wochen schon lief ich grübelnden Schrittes die Feldwege entlang. Ich erinnerte mich an eine Stelle in einem Buch, ging in die kleine Buchhandlung in Füssen, sah das harte Gesicht der Verkäuferin, die Postkarten, Bildbände und Wanderkarten. Ich rief einen Freund an, dirigierte ihn durch mein Regal, und er las: „Der Schnee ist tröstlich“ ich atmete auf, das ist das Wort! Es schneit wieder, und ich weiß, ich werde schlafen wie ein Stein.

Wednesday, December 1, 2010

#31, Telefonstimme

Sie ist Lehrerin und ruft mich an, als sie gerade aus der Schule kommt. Aber am Telefon klingt ihre Stimme rau und unbestreitbar sexy: Wir verabreden uns zum Tanzen heute Nacht.