Monday, March 29, 2010

#197, Die Schönheit von Graffiti

H. ist vierzehn und zum ersten Mal in einer Stadt, die Kreisstadtgröße überschreitet. Dann ausgerechnet Berlin. Geschichte ist ihm geradewegs egal, den Ausländeranteil schätzt er auf 75%, wiederholt fragt er mich, als was ich eigentlich genau arbeite.
H. kennt eine Hip-Hop-Marke, die nur in Berlin zu finden ist und schließlich finden wir auch den dazugehörigen Laden, in Schöneberg. In der Metro lehrt er mich, „Gib mir bitte eine Zigarette“ auf Russisch zu sagen, auf Variationsmöglichkeiten legt er Wert, am Ende
kann ich „bitte“ durch „schnell“ ersetzen und „Zigarette“ durch „Brot.“ Damit kommt er durch in seiner Klasse.
Er hat ein eigenes System, sich die Stadt anzueignen, er klassifiziert die Viertel nach Graffiti und Parabolantennen. Ein Tag an meinem Haus, über das wir lange gerätselt haben, bemerkt er nicht nur sofort, er kann es auch auf den ersten Blick entschlüsseln. Das urbane Zeichensystem, für mich im besten Falle Verzierung, ist ihm ein lesbarer Text, eine Wegmarkierung, anhand derer er sich überraschend sicher vorwärts bewegt. Trotzdem habe ich seinen „Respekt“ verdient, sagt er, weil ich mich hier auskenne, und für seine Mutter bricht er am Abend unseren Ausflug auf die Formel herunter: „Wir sind ein bisschen durch Berlin gechillt.“

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