Tuesday, November 30, 2010

#200, Zuflucht

Die Inselgruppe Tuvalu liegt im Pazifischen Ozean, etwa in dem rechten Winkel, den zwei gedachte Linien zwischen Neuguinea und Neuseeland umschließen. Sie besteht aus 9 Inseln, keine höher als 5 Meter über dem Meer.
Die Durchschnittstemperatur beträgt 30 Grad, alles ist Türkis-Azur-Himmelblau, davor stehen nur Palmen an Sandstränden. Es gibt Korallenriffe und Lagunen. In Tuvalu spricht man Tuvaluisch. Die Menschen dort essen alle Tage frischen Fisch.
Wenn ich es hier nicht mehr aushalte, stelle ich mir vor, wie ich einfach die Tür ins Schloss ziehe. Tuvalu – schon die langen Vokale sind Ziel genug für meine Sehnsucht. Ich mache mir keine genaue Vorstellung von meinem Aufenthalt in Tuvalu; es genügt mir, zu wissen, dass es existiert.
Wie lange noch, ist freilich die Frage. Das Ansteigen des Meeresspiegels ist ein ernsthaftes Problem für die Bevölkerung, ihre Inseln drohen im Ozean zu versinken. Doch nach aktuellen Prognosen wird dies in den nächsten 30 Jahren nicht geschehen.
Die Inselgruppe Tuvalu liegt etwa 10 Zentimeter über dem Lichtschalter in meiner Küche, die große Weltkarte hatte gerade noch Platz. Jeden Tag suche ich das immense Blau des Ozeans nach den winzigen Inseln ab und kann das Licht erst dann ausschalten, wenn ich sie gefunden habe.

Monday, November 29, 2010

#75, Frühstück am Abend eines frostigen Sonntags (Achim)

Heute war der erste frostige Sonntag, acht Stunden saß ich im Freien, in sieben Hemden, langen Unterhosen, Winterstiefeln und mit einem großen blauen Badetuch auf den Knien. Zuhause stelle ich den Heizlüfter auf den Küchentisch, lege meinen Kopf auf das Frühstücksdeckchen, greife blind nach dem Kaffee, verharre im Zug flüchtiger Wärme, genieße was kommt und denke an gar nichts. Bis zum Bett sind es zehn Schritte, mehr muss ich nicht wissen um glücklich zu sein.

Sunday, November 28, 2010

#110, Vorfreude

Ich schreibe die Mail zu Ende, putze mir die Zähne, kämme mich, trage schnell noch ein bisschen Wimperntusche auf. Längere Zeit verbringe ich damit, Handschuhe zu suchen, weil es heute wirklich kalt sein wird auf dem Rad. Ich werfe mich in Wintermantel, Schal, Mütze, ich suche alles zusammen und habe dann doch den Tabak vergessen, sodass ich die Tür noch einmal aufschließen muss, schließlich zickt das Fahrradschloss und lässt sich erst nach langem Zerren und Ruckeln öffnen. Dann bin ich auf dem Weg.
Währenddessen, und ohne dass ich es wüsste, ereignet sich für Lu der schönste Moment seines Tages: Er sitzt in der Bar und wartet darauf, dass ich komme.

Saturday, November 27, 2010

#131, Weißes Rauschen

Ich genieße jede Sekunde, das tue ich wirklich. Ich trinke, ich lache, ich esse. Doch unter allem liegt, wie weißes Rauschen, diese Unruhe. Sie sorgt dafür, dass sich mein Verstand für einige ruhige Sekunden nach innen kehrt und sich wieder dieses Themas annimmt, an dem er schon seit einiger Zeit dreht und kniffelt. Taugt die Idee etwas? Hält sie, was sie verspricht? Werde ich fähig sein, auszudrücken, was sich da vorerst präsentiert wie ein nasser Klumpen, von Finesse keine Spur? Diese Unruhe ist es, die dafür sorgt, dass ich in unbeobachteten Momenten grimassiere, ein zähnebleckender Affe, der nicht an den Zucker kommt.
Dann ist die CD vorbei, der Kaffee getrunken, der Abschied ist vollzogen. Es ist Samstag Nacht, ich bin unruhig, ich setze mich an den Computer und beginne zu schreiben.

Friday, November 26, 2010

#200, Remis

Ich habe entdeckt, dass viele Männer in meinem Umfeld ein gemeinsames Interesse verbindet: Sie spielen Schach.
I. ist israelischer Schachmeister seiner Altersklasse, und wenn er vom Schach erzählt, nur ganz oberflächlich, um mich nicht zu verwirren, leuchten seine Augen. Er bietet an, mir Stunden zu geben, doch ich lehne lachend ab.
Lu dagegen ist hartnäckig. Er spielt Schach gegen den Computer und freut sich, wenn er doch einmal gewinnt. Er zeigt mir die sizilianische Eröffnung im Schachvideo und erklärt mir, dass es auf jeden Zug eine strategische Antwort gibt, die der gute Schachspieler natürlich kennt. Ich bin keine gute Spielerin, auch hatte ich gedacht, Schach habe mit Intuition und Strategie zu tun, nicht mit Auswendiglernen. In vier Zügen bist du schachmatt, sagt Lu hinterhältig. Wir spielen, und natürlich verliere ich: Aber es braucht dazu eine Stunde und deutlich mehr als vier Züge.
Als ich am nächsten Tag in der Arbeit davon erzähle, packt R. aus: In der Schule bin ich im Schachclub gewesen, sagt er. Na logisch, sage ich, natürlich warst du so einer aus dem Schachclub. Das war ja klar! Er sieht mich abschätzend an: Und du? Du warst doch sicher in der Theatergruppe? – Ganz genau, lache ich, Theatergruppe.

Thursday, November 25, 2010

#200, Zitierbarkeit des Zitatcharakters (Achim)

Ich kenne einen Philosophen, der so gut ist, dass niemand ihn versteht, weder Professoren noch Bekannte. Fast niemand kennt ihn, denn alles was er schreibt, Zettel mit ein paar maschinengeschriebenen Zeilen, geistern in engem Kreis durch ein paar Hände, die ihm wohlgesonnen sind. In kürzeren Abschnitten als diesem hier gelingt es ihm, dem Leser einen Knoten in den Kopf zu zaubern, fester als Hegel dies jemals erreichte. In einem dieser Texte taucht die Wendung auf, die mir nicht mehr aus dem Sinn geht, obgleich ich auch nach Jahren nicht dem Ansatz nach eine Ahnung habe, was sie sagen soll: Die Zitierbarkeit des Zitatcharakters. Ich lag nächtelang wach und versuchte festzuhalten, was denn dies sei, ein Zitatcharakter, und wenn mir dies beinahe glückte und ich versuchte die Zitierbarkeit zu fassen, so entglitt mir der Zitatcharakter noch ehe ich sie im Geiste anbei stellen konnte. Nun, nach Jahren und Nächten des Ringens, habe ich beschlossen, eine Abhandlung zu schreiben, die dem Zauber dieser knotenbildenden Wendung nahe genug kommt, um mit ihr Frieden schließen zu können. Und sollte es mir auch nicht gelingen, sie zu durchdringen oder zu fassen, so will ich wenigstens ihre Schönheit erweisen, die nur ein Dichter zu schaffen vermag.

Wednesday, November 24, 2010

#165, Gelernt ist gelernt

Schon oft habe ich mich gefragt, wozu die Dinge gut sein sollen, die einem als Kind die Erwachsenen beibringen. Warum sollte man eine perspektivisch mehr oder weniger absurde Kirche zeichnen können? Wem hilft es, wenn man die zehn Unterschiede findet?
Heute morgen habe ich versucht, Thermosohlen für meine Winterstiefel zurecht zu schneiden. Es gab gestrichelte Linien für die Größen 36-45, eine Linie pro Größe und alle verwirrend nah aufeinander. Ich gebe zu, ich war noch nicht richtig wach und verkatert wohl auch. Jedenfalls hatte ich Probleme, meine Linie 39 im Blick zu behalten. Dann erinnerte ich mich an folgende Aufgabenstellung: Wie kommt die Maus zum Käse? Für die Maus gibt es nur einen Weg dorthin, den man nachfahren muss, und er führt durch ein ganzes Wollknäuel von anderen Wegen. Die einzige Möglichkeit besteht darin, den Kontext zu vergessen und nur die zwei Millimeter zu beobachten, die sich direkt vor deinem Stift befinden.
Die Sohlen gelangen. Und einige Stunden darauf, wie bestellt, fiel der erste Schnee.

Tuesday, November 23, 2010

#200, Großstadtdschungel

A., die in Hamburg zu Hause ist zwischen Schanzenviertel und St. Pauli, war zu Besuch, bei mir in Neukölln. So ganz versteht sie nicht, was ich an meinem Viertel finde: Ja, der Kanal, sagt sie, ja, die Bäume, jaja, aber so richtig zentral ist das hier nicht, das sagt sie auch. Ich erkläre, dass ich ein Problem habe mit dem Konzept Kiez-Straße, wo alles fertig und abgesteckt ist und nur darauf wartet, dass du kommst und irgendwo dein Geld lässt. Hier bin ich dabei, sage ich, während sich alles noch entwickelt, und klar, ich reiße nicht vor Begeisterung die Arme in die Luft – aber ich spreche deutlich schneller.
A. sieht mich an, mit einem Blick, den ich übersetzen kann: Bist du nicht etwas zu alt für die Studentenszene? Was willst du auf Partys mit lauter 20-Jährigen, die davon erzählen, wie kreativ sie sind? Meine Arme, die ich nicht vor Begeisterung in die Luft gerissen habe, pendeln jetzt etwas ratlos an mir herunter. Ich begleite A. zur Metro. Kurz vor dem Broschek hebe ich einen der beiden, den rechten, doch noch über meinen Kopf, ich zeige in einen Baum. Dort in einer Astgabel hängt ein riesiger Stoffleopard, zufrieden und satt.

Monday, November 22, 2010

#160, Die Nachbarin wünscht mir einen guten Tag (Achim)

Heute, im Flur, knie ich und pumpe das Vorderrad auf, und die Nachbarin kommt und wünscht mir einen guten Tag. Ich treffe fast nur sie im Treppenhaus, obgleich noch viele andere Menschen hier wohnen. Ob sie lauscht und die Wohnung verlässt wenn ich mich auf den Weg mache, nur um mir guten Tag zu sagen? Oder denkt sie vielleicht, dass ich es bin der lauscht und versucht sie zu treffen wenn sie im Treppenhaus ist? Oder ist das einer dieser Zufälle, eine Einbildung, die der Wahrscheinlichkeit nur dem Anschein nach zuwider läuft? Wenn ja, dann eine, die ich mir gefallen lasse, denn ich mag die Art, wie sie guten Tag sagt, höflich, freundlich und stets schmunzelnd ob des sonderbaren Zufalls, an den auch sie nicht recht glauben mag. Und wenn ich mich auf den Weg mache oder die Straße entlang laufe fasse ich mir an den Hut, damit er gut sitzt, falls ich ihr im Treppenhaus wieder begegnen sollte.

Sunday, November 21, 2010

#200, Ich bin Fußpflegerin.

Ich war Essen mit einem Freund, der aus Sardinien kommt. Den Sarden muss man Zeit geben, ihre Ideen zu entwickeln, das sagt zumindest er. Also höre ich zu und denke nach, zu welchem Schluss uns sein Mäandern bringen wird, und er hat Recht, am Ende ist seine These interessant. Nicht so dagegen seine italienischen Freunde, die kurz an den Tisch kommen, um sich selbst ein bisschen darzustellen, Parvenus nennt sie der Sarde, eingebildet nenne ich sie. Natürlich ist die Selbstdarstellung keine Eigenschaft nur von Italienern, statt national bedingt ist sie eher eine Eigenart von sozialen Klassen, vorherrschend vor allem unter Neureichen und jeglicher Form von Künstlern: Sofort Alles! aber auch Alles! über sich selbst in den Ring zu werfen, was auch nur halbwegs von Interesse ist. Mein Job! Mein Projekt! Meine Kontakte!
Eine natürliche Konversation, in der ein Thema zum anderen führt, ist undenkbar geworden, es fehlt die Zeit. Wer nicht Gefahr laufen will, ungehört zu bleiben, muss schreien. Für mich ist die Selbstdarstellung immer ein Ärgernis, wenn ich es tue, wenn ich es nicht tue, wenn es die anderen tun. Aber da ist der Sarde, und jetzt kommt da auch dieser Song aus den Kopfhörern: The age of understatement.

Saturday, November 20, 2010

#19, Fast wie Sonntag

Aus dem Bett zum Frühstückstisch, zurück ins Bett, unter die Dusche, wieder an den Frühstückstisch und dann zum Abendessen.

Friday, November 19, 2010

#196, Warten auf die 50 (Achim)

Gegenüber auf dem Bahnsteig steht ein alter Mann und schimpft wie ein Rohrspatz. Schon seit 18 Minuten kommt keine 50. Dafür kommt die 13, eine nach der anderen. Er reißt die Augen auf, schreit den Fahrer an, die 50 kommt nicht! Er hämmert mit dem Zeigefinger auf die Uhr, jetzt schon 20 Minuten keine, und dann, als auch sie durch ist, ruft er den neuen Fahrgästen zu: Ihr könnt gleich wieder gehen, die 50 kommt nicht, die Anzeige ist falsch, sie blinkt und springt zurück auf zehn Minuten, nur die 13, die kommt. Er winkt dem Fahrer der nächsten, na los, mach Platz, fahr schneller. Einige der Wartenden haben Angst und blicken zu Boden, steigen zügig ein, in die 13, die fährt genau die gleiche Strecke bis zur Endstation. Es macht keinen Sinn zu warten - nur der alte Mann harrt aus, besteht auf die 50 und darauf zu schimpfen. Ich fahre in die andere Richtung, lasse eine übervolle 13 aus, steige ein, sehe wie gegenüber auch eine 50 kommt, und durch mehrere Scheiben verfolge ich wie er seinen Platz findet, ruhig wird, den Ärmel über das Handgelenk mit der Uhr streift und endlich weiter kann.

Thursday, November 18, 2010

#187, Get lost in Rixdorf!

Wir treten in Rixdorf aus der Tür und machen uns auf den Heimweg. Es regnet auf eine Art, die man, handelte es sich um Schnee, nur als Gestöber bezeichnen könnte.
Nach einigen Metern sind wir klitschnass, wir gehen schnell, sprechen nicht, halten die Gesichter auf den Boden gerichtet. Nach ein paar weiteren Metern haben wir uns total verlaufen.
Obwohl es insgesamt höchstens zwei Kilometer Luftlinie zu meiner Wohnung sein können, habe ich keinen blassen Schimmer mehr, wo wir sind. Dabei erkenne ich die Straßennamen wieder: Weserstraße, Sonnenallee, das sind alles Namen aus meiner näheren Umgebung. Bloß sind sie irgendwie durcheinander geraten in Position und Ausrichtung, es gelingt mir einfach nicht, sie zu einem logischen Ganzen zu arrangieren, das mir, wie umgeben von einem roten Kreis, Aufschluss über meinen aktuellen Standpunkt geben könnte.
Irgendwann finden wir einen Bus in die richtige Richtung.
Wir müssen mehrere Kilometer im Kreis gelaufen sein, denn auch die Haltestellen des Busses sind mir ganz unbekannt. Die Scheiben sind beschlagen, man sieht nicht nach außen, der Bus fährt wie ein Raumschiff durch unerforschte Gebiete.
Aber die Endhaltestelle ist richtig, und das macht uns Mut.

Wednesday, November 17, 2010

#200, Die Sonne über der moralischen Welt

Das kubanische Konsulat steht zwischen einer Netto-Filiale und der Botschaft von Moldavien. Für unsere Touristenkarte schickt man uns ums Eck, dort öffnet sich der hohe Metallzaun erst, als wir klingeln, aber dann schreiten wir auf einem schwarzen Plastikläufer mit bunten Punkten durch den Eingang.
Bevor wir noch am Informationsschalter sind, kommen wir an einer Che-Guevara-Büste vorbei und an einem Gemälde in fröhlichen Farben, das das siegreiche kubanische Volk in einem Boot zeigt und mit der Bildunterschrift Venceremos! versehen ist.
Unsere Touristenkarte bekommen wir sofort, der Mann hinter dem Tresen ist weder Kubaner noch Berliner, er ist freundlich. Während er unsere Pässe kopiert, bittet er uns, kurz Platz zu nehmen. Auch für unsere Unterhaltung ist gesorgt, es liegt die April-Ausgabe der patriotisch-kulturellen Monatszeitschrift El Sol del Mundo Moral aus. Darin sprechen die Autoren über die Revolution von gestern, über den Kommunismus von heute und vor allem über die Generation von morgen: Die jungen Leute scheinen einfach nur weg zu wollen. Das beunruhigt die Autoren, und während ich linken Stammtisch-Diskussionen in Deutschland fast gar nicht mehr zuhören kann, finde ich El Sol del Mundo Moral faszinierend. Das Wort Kommunismus hat hier einen realen Bezug. Was genau es bedeutet, werde ich noch herausfinden.

Tuesday, November 16, 2010

#138, Die Schönheit der Langeweile an Regentagen (Achim)

Regen, nichts weiter, nur die Tropfen auf dem Fensterbrett, mal links am Fenster, mal am rechten, weit hinter der Gardine meiner Großmutter. Seit Stunden genügt mir dieses Geräusch, und die Kohlen neben dem Ofen und die Kartoffeln im Küchenschrank reichen für fünf weitere Tage. Ich bewege mich langsam, versuche den Regen nicht zu stören, nicht zu erschrecken und nichts zu tun, das seine Aufmerksamkeit auf mich lenken, nichts was ihn innehalten lassen könnte. Ich will nur weiter im Sessel sitzen, ein wenig dösen, in ein Schläfchen sinken, im Gähnen die steifen Glieder strecken, lauschen auf die Art in der die Zeit sich in den Tropfen den Takt gibt – und bis die Kohlen alle sind möchte ich mich ihrem Rhythmus ergeben. Die Zeit meint es heute gut mit mir, und gelassen und still lauschend will ich ihr gewogen bleiben.

Monday, November 15, 2010

#178, Tänzer/Wörter (Continu)

24 Tänzer, Männer und Frauen, die über die Bühne fegen, um sich kurz darauf in einer Ecke zu einem Nukleus von höchster Dichte zusammenzuballen. 24 Tänzer, die leiden, einander begehren, alleine stehen, sterben, die zusammenfinden wollen und scheitern; sie scheitern, sie scheitern. In ihrem Verlangen, nicht im Ausdruck.
Die Schönheit dieser Körper, die über sich selbst nicht hinauskönnen, liegt im Akzent einer Armbewegung, einer Drehung um die Körpermitte. Die Genauigkeit, mit der eine Emotion, ein Zustand sich selbst durch die kleinste Bewegung noch ausdrücken lassen, hinterlässt mich sprachlos. Welches Wort sollte ich der Zartheit geben, mit der sich am Ende zwei Tänzer finden, vorsichtig, in die Brüchigkeit des Anderen hineinsehend und ihn stützend, wie sollte ich das nennen?
Ich arbeite mit Wörtern, und selbst dort, in meinem Metier, gelingt mir oft wenig, weil ich Halbfertiges stehen lasse, nicht auf den Grund dessen komme, was ich sagen möchte. Könnte ich einen Satz schaffen mit 24 Wörtern, die so präzise eins hinter dem anderen stehen wie diese Tänzer, einander bedingen, in jedem Schlingern einen Ausdruck bergen, ich hätte alles gesagt.

Sunday, November 14, 2010

#198, Gezeiten

Wir wollten uns an der Station Warschauer Straße treffen. Ganz gegen meine Gewohnheit komme ich zu früh, sie dagegen werden, wie immer, zu spät kommen. Ich richte mich auf eine längere Wartezeit ein, hole mir einen Kaffee, setze mich auf ein Geländer und sehe nach außen. Der Blick die Gleise entlang Richtung Ostbahnhof ist vielleicht einer der wenigen überhaupt großstädtischen Berlins. Da sind ein paar Hochhäuser, der Fernsehturm, die beleuchteten Schilder verschiedener großer Ketten, an und für sich hält sich die Großstädtischkeit auch hier in Grenzen. Vielleicht empfinde ich es nur so, weil ich geistig den Blick von der Oberbaumbrücke summiere, und alles zusammen gibt diesen Eindruck von Stadt.
Ich rauche eine Zigarette, Leute tauchen aus dem Dunkeln auf, in Gruppen, und teilen sich vor dem Geländer in zwei Ströme, die links und rechts von mir vorbeirauschen. Bisweilen werde ich von Wogen überrascht, die sich hinter meinem Rücken auf die Stufen ergießen, immer wenn eine Bahn angekommen ist. Über allem liegt The Notwist, so wie ich sie aus den Kopfhörern höre.
Und was ich da empfinde, während ich ruhig auf dem Geländer balanciere, rauche, Menschen betrachte und über die Stadt sinniere, ist das völlig unsinnige Gefühl von Freiheit.

Saturday, November 13, 2010

#121, Die Farbe des aufrechten Gangs (Achim)

Zeit ist eine Frage der Priorität, sagte mein Mathematiklehrer. Ich habe eine Weile nachgedacht und möchte einen Satz dazustellen: Was Priorität hat, ist eine Frage des Wohlgefallens, der Ästhetik – im klassischen Sinne die Schönheit der Verbindungslinien der Seele mit dem Kosmos. Und wenn ich trotz der angenommenen Priorität des Schönen nun meinem Verstand trauen darf, dann ist Zeit haben eine Frage des ästhetischen Sinnes – das, was schön ist, bestimmt, wofür wir Zeit haben, und Farbe und Form dessen, was in den Sinnen liegt, lenkt unseren Schritt.

„Priorität hat, was notwendig ist“ – könnte jemand einwenden. Das ist der Idealfall, das Diktat des Zwangs, der den Charakter entschuldigen soll. Doch schon ein freier Schritt vor die Tür bringt die Farbe zurück ins Spiel.

Friday, November 12, 2010

#58, Attraktion

Heute am Hermannplatz geht der Wind in Wirbeln. Wo die Hermannstraße herunterkommt, fliegen die Blätter und abgerissenen Poster, und alles fliegt bis zu drei Metern hoch.
Die Leute müssen durch den Wirbel hindurch, wenn sie die Straße überqueren wollen, mitten hindurch. Manche machen ein Gesicht, ziehen eine Schnute.
Die meisten aber schließen den Mantelkragen enger und amüsieren sich.

Thursday, November 11, 2010

#76, Ein Wort

Früher, als Kind, habe ich "Tschau" geschrieben, bis ich aufs Gymnasium kam und "Ciao" lernte. Ich lernte, es zu schreiben, aber die Verbindung zwischen geschriebenem c und gesprochenem tsch ging mir erst in Italien auf. In Spanien habe ich dann gelacht. Typisch, fand ich, sei es für die Spanier und Spanischsprachigen, alles Fremdländische und dennoch Benutzte in ihre drollige Kleinkinder-Orthografie zu übersetzen.
Heute schreibt mir J. "Chau", in der spanischen Schreibweise: Ganz allein aus ästhetischen Gesichtspunkten.

Wednesday, November 10, 2010

#121, Die Schönheit von Neukölln II

Gottfried Benn schreibt in seinem Gedicht "Was schlimm ist":
"Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann."
Wenn ich abends durch die Straßen laufe, schon mit der einsetzenden Kälte auf dem Gesicht, von der ich ahne, dass sie noch weit entfernt ist von dem, was da noch auszuhalten sein wird, sehe ich in die Kneipen. Ihr Anblick im Winter ist noch neu, viele gab es letztes Jahr noch nicht, sie wirken wie warme Wegmarken auf meiner Strecke.
Wenn es einmal wirklich kalt ist, werde ich auf der langen, grauen Weserstraße nicht erfrieren. Bevor es soweit kommt, kann ich einkehren und mich an die Kerzen im Fenster setzen, die eine Einladung sind. 1,50 für einen Tee werde ich auftreiben können.

Tuesday, November 9, 2010

#200, Warmer Novemberabend am Kottbusser Tor (Achim)

Kaum spüre ich die Wärme des Raumes, da flüstert links unten eine junge Frau: Sind Sie der Musiker? Ich bemerke den Clubsessel und ihr überpudertes Gesicht, sehe Gäste, junge Leute, deren Kleider akademische Verwegenheit zeigen wollen. Eine Frau mit Mikro am Tresen spricht von einem Roman mit Potential. Ich wende in der Tür und behalte den Hut auf, schleiche zurück durch die zugige Kälte. Im Eingang zum Schacht begegnet mir eine Mutter mit Kind, den Pitbull an langer Leine. Die Mutter blickt rastlos, suchend, eingefallene Wangen, strähniges Haar, wenig los hier, die Junkies sind dünn gesät heute Abend. Ich setzte mich, strecke die Beine, warm hier, November, wie sonderbar! Ich lasse den ersten Zug fahren, den zweiten. Ein Araber wirft eine Flasche gegen die Wand, brüllt „Hure!“, die Wartenden weichen aus. Ich lasse den dritten Zug fahren, den vierten, blicke an die Wand, die Reklametafeln sind rausgerissen, der Bereich um das Schild „Kottbusser Tor“ wartet auf neuen Putz, weiter unten eine Nummer, Kurve 4223. Ich sehe den Säufern zu, einer läuft auf und ab, kickt Glasscherben auf das Gleis. Ich lasse die fünfte Bahn fahren, die sechste, warte, bis eins der jungen Gesichter hier auftaucht, und wage einen zweiten Versuch.

Monday, November 8, 2010

#20, Geteilte Lebensräume

Das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss dreht und ich sitze im Wohnzimmer und wende den Kopf zur Wohnungstür.

Sunday, November 7, 2010

#200, Lebensräume

Das Haus, in dem ich wohne, wurde um 1920 gebaut. Ich nehme an, es war als Arbeiterunterkunft gedacht, es ist längst nicht so großzügig ausgestattet wie andere Gebäude aus dieser Zeit, die Wohnungen sind praktischer angelegt, ohne Stuck und Schnickes, dafür hat man an einen großen Garten im Hinterhof gedacht.
Manchmal überlege ich, wer vor mir in meiner Wohnung gelebt haben mag. So um die 25 verschiedene Mieter werden es gewesen sein, das schätze ich grob. Mit ihren Familien, Partnern und später dann auch Freunden (die Wohnung ist WG-geeignet). Ich frage mich: Waren sie glücklich?
Als ich die Wohnung besichtigte, hatte ich sofort ein gutes Gefühl. Ich glaube nicht, dass sich hier große Tragödien abgespielt haben. F. dagegen will einmal einen toten Mann im Bademantel in meinem Wohnzimmer gesehen haben – aber F. hat auch einen Hang zur Theatralik.
Meine Vormieter kenne ich, das war ein schwules Pärchen, das sich nach einer Zeit trennte. Davor hat eine Familie hier gewohnt, wahrscheinlich ziemlich lange, denn die Einbauküche stammte aus den 60ern. Waren sie glücklich? Ich habe hier sehr traurige Zeiten erlebt, aber auch sehr gute. Ich glaube, ich kann die Wohnung in einem beinahe neutralen Schwingungs-Zustand übergeben. Am liebsten an einen Freund.

Saturday, November 6, 2010

#196, Der Blick auf den Fußballplatz (Achim)

Am liebsten sehe ich die Interviews: Gleich nach dem Spiel hält ein Reporter einem Spieler auf dem Weg in die Umkleidekabine ein Mikro vor die Brust, breit genug, um Reklame für den Sender zeigen zu können. Der Reporter stellt eine Frage, kaum zu verstehen im Kneipenlärm, der Spieler wischt derweil mit dem Trikot den Schweiß aus dem Gesicht, und spricht dann in lautem Ton etwas, das ich ebenfalls hier nicht verstehe. Ich liebe die Gesichter dieser beiden Menschen, des Reporters und des Fußballers. Der Reporter steht steif, achtet auf sein Mikro, sieht den Fußballer an, zeigt den Eifer eines untätig Begeisterten. Ganz anders der Fußballer: Sobald er spricht ist er wieder auf dem Platz. Er richtet seinen Blick in die Ferne, seine Augen sind unruhig, so, als suche er Anspielmöglichkeiten, um den Ball möglichst schnell wieder abgeben zu können. Passspiel nennt sich das: Der Ball ist schneller als der Spieler, und ohne Ball läuft der Spieler schneller als mit Ball. Wer nicht abgibt verdirbt den Angriff. Hinter ihm verschwindet die Mannschaft in der Dusche. Der Reporter muss sein Mikro gut festhalten, um noch einen weiteren Blick auf den Platz einfangen zu können. Ich fiebere mit ihm.

Friday, November 5, 2010

#200, Wer zum Teufel ist Juan Carlos?

Manchmal bin ich über meine eigenen klugen Einfälle überrascht. Ganz zu Beginn meines Erwachsenenlebens hatte ich ein neues Adressbuch angelegt, geordnet nach den Städten, in denen ich gelebt und wo ich infolgedessen auch Leute kennengelernt habe. Das hat sich als nützlich erwiesen. Seit mehr als zwei Städten allerdings habe ich mich damit begnügt, nur noch neue Zettel hineinzulegen: Ich habe einen Faible für Handschriften.
Heute machte ich mich daran, die Zettel durchzusehen. Ich habe Namen und Nummern, die ich nicht mehr zuordnen konnte, weggeworfen, andere eingeklebt, ergänzt. Mehr als um aktive Bekanntschaften, die ich anrufen könnte, handelt es sich dabei um Erinnerungen, um die Möglichkeit anderer Leben, hätte ich mich bei diesem oder jenem gemeldet, auch um Hochachtung vor bestimmten Personen, dazu eine Handvoll richtiger neuer Freundschaften.
Auch L. habe ich gebeten, seine Adresse aufzuschreiben. Natürlich hätte ich sie selbst eintragen können, nur wollte ich sie von seiner Hand. L. sah mich an mit diesem Blick, der mir zugute hält, dass ich eine Frau bin, oder Deutsche, oder insgesamt nicht ganz dicht, aber er tat, worum ich ihn gebeten hatte.
Endlich habe ich ein Zuhause gefunden für das kleine herrenlose Zettelchen, das er mir einmal auf dem Küchentisch zurückgelassen hat.

Thursday, November 4, 2010

#32, Poesie der Arbeiterklasse

Heute fühlt sich an
wie Freitag;
dabei ist doch erst Donnerstag-
Morgen stehe ich auf
gehe zur Arbeit
bin müde
und dennoch beginne ich die
lange Nacht
mit der Freude darauf,
auszuschlafen.

Wednesday, November 3, 2010

#154, KEIN Post über T.

Der Wind wird es gewesen sein, muss es gewesen sein, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass hier in Neukölln irgendjemand Laub fegt: Die Blätter sind weg.
Gemerkt habe ich es erst, als ich den üblichen Schlenker unter die Bäume machte, einen Schlenker, über den ich sowenig nachdachte, wie ich über das Luftholen nachdenke, und nichts raschelte unter meinen Füßen. Seit Wochen musste ich die Kinderangewohnheit wieder aufgenommen haben, mit den Füßen das Laub vor mir herzuschieben – nicht jedoch, ohne nicht gleichzeitig die unbestimmte Erwachsenenfurcht zu verspüren, dabei in einen mordsmäßigen Hundekackhaufen zu schlittern.
Beides, die unbewusste Freude über das Blätterrascheln, sowie die Furcht vor den Hundekackhaufen, hat sich heute in Luft aufgelöst. Oder besser gesagt, hat mir die Luft in Form von Wind beides abgenommen. Geblieben ist eine leise Genugtuung darüber, dass sich nicht einmal mein Unterbewusstsein von der Angst den Spaß verderben lässt – von selbst hätte ich mit dem Blätterrascheln nicht aufgehört.

Tuesday, November 2, 2010

#59, Foto mit Kaffee und Kuchen (Achim)

Morgens um sechs mit dampfendem Kaffee in der einen Hand und Kuchen in der anderen auf dem Klappstuhl neben der Plane sitzen, abwechselnd die Arme heben und den Kopf neigen, mit den Füßen im feuchten, in der Dunkelheit noch farblosen Laub scharren und verdammt unrasiert und ohne Kater, einfach nur müde in der kalten Luft auf den Sonnenaufgang warten.

Monday, November 1, 2010

#194, Friede auf Erden!

Meine Mutter hat mich einmal um einen Gefallen gebeten, den ich ihr nicht abschlagen wollte. Aus dem Urlaub hat sie mich auf den Friedhof beordert, um eine Kerze am Grab meiner Großeltern anzuzünden. Dies konnte nicht irgendwann während ihres Strandurlaubs erledigt werden, sondern hatte am Abend des 1. November zu geschehen: Ich erhielt genaue Anweisungen.
Was es damals mit Allerheiligen auf sich hatte, wusste ich nicht – und hätte ich es gewusst, es wäre mir egal gewesen. Ich fand das nur verschroben. Weshalb ich den Auftrag trotzdem korrekt ausführte, kann ich nicht mehr sagen, wahrscheinlich war es ein Zufall.
Ich marschierte also durch die Hinterpforte auf dem kürzesten Weg zum Grab meiner Großeltern und entzündete die Kerze. Meinen Großvater habe ich kaum gekannt, meine Großmutter war keine kuchenbackende, lebensweise Oma. Ich habe nicht gebetet an ihrem Grab, nur mir ein paar Gedanken gemacht.
Auf dem Rückweg zum Auto, quer über den dunklen Friedhof, stellte sich heraus, dass die Einfälle meiner Mutter nicht verschrobener waren, als die aller anderen Katholiken des Ortes: Der Friedhof war ein Meer aus Kerzen.
Meine Mutter hat mir einmal einen Gefallen getan, als sie mich zu Allerheiligen auf den Friedhof schickte.