Friday, October 8, 2010

#200, Mit Johannes am Grab von Uwe Greßmann (Achim)

Vor Jahren las ich ein Gedicht, einen Namen, und war verliebt. Ich fragte nach: Nur einen Lyrikband hat er zu Lebzeiten veröffentlicht, und über einem zweiten ist er gestorben, in jungen Jahren. 40 Jahre ist er schon tot. Ich kenne jemanden, der ihn kannte, und der verriet mir, wo sein Grab ist. Als er mir den Weg beschrieb, da staunte ich, denn diesen Friedhof hat Johannes im Blick, Tag für Tag, wenn er aus dem Fenster sieht. Auch ich habe schon oft aus seinem Fenster gesehen, während er still hinter mir am Schreibtisch saß, Wein trank, rauchte, vor sich die Lilie in der Wasserkaraffe und die trockenen Blätter im Glas. Heute haben wir sein Grab besucht. Ich bücke mich zum kleinen Grabstein, lese die Daten, sehe den Strauß, den jemand vor Wochen an den Stein gelehnt hat. Johannes erzählt, er habe lange suchen müssen, um das Grab zu finden, denn einer dieser einst kleinen Nadelbäume ist über die Jahre riesig groß geworden, und nur weil jemand einen der Äste weggeschnitten hat, ist der Grabstein nun leicht zu sehen. Ich sehe den Stumpf des Astes, hebe den Blick, und erst mit dem Kopf ganz im Nacken sehe ich seine Spitze.

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