Friday, December 24, 2010

#173, Rosskur

Seit Jahren verbringen wir den Nachmittag von Heiligabend im Sanatorium. Die Menschen dort, Männer wie Frauen, sehen mit leeren Augen aus dem Fenster. Manchmal hört man Schreie aus den Zimmern, es riecht süßlich in den Gängen, nach Medikamenten, nach Fäkalien. Dabei ist es sauber und sogar jahreszeitlich dekoriert. Traurige Tannenzweige sind auf einer Höhe angebracht, die es unmöglich macht, sie einem Anderen ins Auge zu stecken.
Ein Mann steht in Jogginghosen aus dem Flur und beschimpft alle Vorbeikommenden. Die Schwestern sind längst daran gewöhnt und beachten den Mann nicht, aber die Frau, die sich das Tablett an den Kopf schlägt, versuchen sie dienstbeflissen wegzuführen.
Der Höhepunkt des Tages ist die Weihnachtsfeier. Zu klumpigem Stollen und wässrigem Tee werden die Geschenke verteilt, ein Duschgel, Socken, die von den meisten Bewohnern nicht einmal wahrgenommen werden. Ein Mann beißt in seinen Schokoweihnachtsmann, das Alupapier hat er zuvor nicht entfernt. Meine Mutter kennt alle Bewohner mit Namen, ich nur ein paar. Jedes Weihnachten verbringen wir hier, und jedes Mal komme ich stärker heraus als ich hineingegangen bin.

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