Wednesday, January 19, 2011

#200, Die Schönheit einer rissigen Fassade (Achim)

Zwar könnte ein Text schön sein, der den Blick auf das Lebenswerte richtet – doch noch lieber möchte ich Haken schön finden, die das Leben nicht nur schlägt, sondern es zu zerreißen drohen. Eine alte Frau die zu Kriegszeiten mit Künstlern befreundet war, die mit einem oder zwei Beinen im Knast saßen, sagte mir, ich soll Mut haben und bloß nicht den Mund halten. „Man kann es überleben!“ sagte sie, und sah mich an. Und eine Bekannte sagte, ein Gedicht, dass um einen Fehler kreist, könne sehr wohl gelungen sein. Gemeint war erst mal nur ein Fehler in der Form, der den gebildeten Leser verärgern könnte, um ihn auf den zweiten Blick in das Gedicht hinein zu ziehen.. Vom Klettern kenne ich Klemmkeile: Man steckt sie in Spalten und zieht an ihnen – unter Zug sitzen sie fest. Ein Kletterer sieht sich die Wand an, sucht nach Spalten, plant die Route. Ähnlich betrachte ich die Fassaden der Altbauten: Wo sind noch Einschusslöcher vom letzten Krieg, wo Nistplätze für Spatzen, wo bröckelt und wo glänzt sie und wo hat sie über die Jahre Würde behalten. Als Knabe wollte ich die Felswände hoch – jetzt genügt der Blick auf die Fassade um unruhig zu werden.

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