Friday, May 21, 2010

#200, Die Lupe meiner Mutter

Heute hat mir ein Bekannter gezeigt, wie man erkennt, ob eine Plattennadel abgenutzt ist oder nicht, und ob sie einen sphärischen oder elliptischen Schliff hat. Die Lupe, die er dazu benutzt, kenne ich. Wenn meine Mutter mit Steinen beschäftigt ist, hat sie so eine an einer Schnur um den Hals hängen, so, wie andere einen großen Bernstein tragen. Die Lupe ist klein, kaum größer als ein Hosenknopf, hat aber eine Linse, die stärker vergrößert als normale Leselupen.
In meiner Kindheit fuhren meine Eltern in die Steinbrüche. Am Wochenende waren keine Arbeiter dort, und Wachleute gab es nicht. Manchmal fuhren wir auf wilden Feldwegen in Steinbrüche, die schon lange brach lagen, und manchmal vorbei an neuen Baggern und Schildern, die Mineraliensammlern mit Konsequenzen drohten. Dort, wo gerade frisch gesprengt wurde, sind die interessanten Steine zu finden. Meine Eltern standen am Stein dicht beisammen. Sie nahm die Lupe, sah nach bestimmten Kristallen und der Maserung, erklärte, was sie sah, und zeigte, wo der Meißel zu platzieren sei. Er schlug mit dem Fäustel, so dass das Echo der Wände bis ins nächste Dorf hallte. Mal flüsterten sie, mal beschimpften sie sich, mal gelang ein Schlag und mal zersprang die Stufe im letzten Moment.

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